von Prof. em. Erhard S. Gerstenberger

Gutachten fĂŒr die EKHN, 1994 (in: Klaus Bartl, Hg., EKHN-Dokumentation 2, Schwule, Lesben ... â€“ Kirche, Frankfurt a. M. 1996, 124–158)

 

1   Ausgangspunkte und Methoden

1.0 Wer ĂŒber einen beliebigen Sachverhalt urteilen möchte, tut gut daran, sich seines oder ihres Standortes zu vergewissern. Urteile jeder Art schließen nĂ€mlich immer „Vor”-Urteile, die sich aus den Bedingungen und Begrenzungen des oder der Urteilenden ergeben (konventionalisierte Meinungen, Interessen, Wertvorstellungen usw.) mit ein. Andererseits mĂŒssen wir auch ein spezifisches Geflecht von sozial, kulturell, ethnisch, sexuell vorgegebenen Parametern fĂŒr die antiken Aussagen annehmen. Sie stammen von Menschen, und Menschen denken, fĂŒhlen und reden in konkret begrenzter und vorlĂ€ufiger Weise. Das bedeutet im Einzelnen:

1.1 Unsere Gesellschaft befindet sich (seit der AufklĂ€rungszeit) in einem immer schneller verlaufenden Prozess der Umgestaltung; er ist in der europĂ€ischen Nachkriegsgeschichte besonders drastisch verlaufen und zu Bewusstsein gekommen. Bedingt durch industrielle Produktion und Lebensweise, technologischen Machtgewinn, medizinische Kunst, soziale Errungenschaften und ideologischen Autismus (H.-E. Richter) kann der Einzelmensch als der höchste Wert gehandelt werden, hinter dem zukĂŒnftige Generationen wie mitmenschliche Bindungen zurĂŒckzutreten haben. Die Autonomie des einzelnen ist mit dem SelbstwertgefĂŒhl des antiken Israeliten, der stark in seine Familie und Sippe eingebunden war, nur schwer zu vergleichen. Ebenso schwierig ist es, die biblischen Beziehungsgeflechte mit den neuzeitlichen (und sich stĂ€ndig neu bildenden) sozialen Lebens- und Gemeinschaftsformen zu konfrontieren.

1.2 Die SexualitĂ€t spielt in jeder Gesellschaft von alters her eine bedeutende Rolle; sie ist gerade auch in einer sich neu formierenden Lebenswelt der Moderne von allergrĂ¶ĂŸter Wichtigkeit. Neben Arbeit und Religion ist die erotische und sexuelle Liebe ein ĂŒberaus starkes zwischenmenschliches Bindemittel. Der kulturgeschichtliche Vergleich zeigt, dass SexualitĂ€t wie alle anderen menschlichen Attribute ihre Geschichte hat. Trotz vergleichbarer biologischer Grundausstattung haben die Menschen in ihren unterschiedlichen Sozialgebilden dem Geschlechtstrieb wie der Liebe unterschiedlichen Stellenwert und verschiedene Funktionen zugemessen. Auch an diesem Punkt mĂŒssen wir vorsichtig sein mit GegenĂŒberstellungen. Klar ist jedoch, dass SexualitĂ€t nie abstrakt, sondern jeweils nur im Kontext der zugehörigen Kultur und Gesellschaft betrachtet werden darf. In ruhenden Gesellschaften wird SexualitĂ€t weniger zum Problem als in den SozietĂ€ten, die sich in rapider Umgestaltung befinden.

1.3 Wie alle ethischen Probleme ist auch die Frage nach dem Wert, der Funktion und dem rechten Gebrauch der menschlichen SexualitĂ€t eingebunden in das Gesamtleben. Psychische, soziale, religiöse Strukturen sind gleichermaßen an der Bewertung und der Praxis sexuellen Lebens beteiligt. Im Altertum fand hĂ€ufig die SexualitĂ€t der Menschen ihre direkte Entsprechung in der göttlichen SphĂ€re. Das trifft fĂŒr Israel nur zeit- und stellenweise zu (vgl. Jahwe und seine Aschera in den Inschriften von Kuntillet Adjrud: E.S. Gerstenberger, Jahwe; O. Keel, Göttinnen). SpĂ€testens in der exilisch-nachexilischen Zeit wurde die SexualitĂ€t aus dem Gottesbild verdrĂ€ngt (doch vgl. die Metaphorik: Jahwe und seine Braut/Frau Israel: Jes. 62,4f; Ez. 16). In der christlichen Tradition begreifen wir SexualitĂ€t (wohl unter dem Einfluss neuplatonischer und persischer Abwertung alles Materiellen) lediglich als ein menschlich-zeitliches PhĂ€nomen, das keinerlei „Ewigkeits”signifikanz habe.

1.4 Die Verantwortung fĂŒr das sexuelle Verhalten wurde in der biblischen Zeit dem einzelnen angelastet. Die Regeln fĂŒr das Sexualleben aber wurden durch die göttliche Welt sanktioniert, in den PrimĂ€r- und SekundĂ€rgruppen tradiert und kontrolliert, spĂ€ter in den heiligen Schriften gespeichert. Sie  galten als unverĂ€nderlich und auch (oder gerade?) bei schĂ€rfster Trennung der göttlichen Heiligkeit von der irdischen Unreinheit als relevant fĂŒr den kultischen Umgang mit dem Göttlichen. Das gilt fĂŒr viele Religionen. Der Kultus ist Ort und Zeit, in denen sich menschliches und göttliches Tun am intensivsten berĂŒhren. Fehlender Gleichklang mit dem Göttlichen auf Seiten der Kultteilnehmer ist eine KrĂ€nkung der Gottheit. So kommt es zu strengen Speise-, Kleider- und Verhaltens- (oft: Enthaltsamkeits-)Regeln fĂŒr den Kult. Sie stehen sĂ€mtlich unter der PrĂ€misse, dass der Mensch fĂŒr jede seiner LebensĂ€ußerungen momentan voll verantwortlich sei. Von einer biologischen oder kulturellen PrĂ€gung der Person, also einem außengelenkten Verhalten, hatte man keine Kenntnis, bzw. man kannte es lediglich im PhĂ€nomen der „Besessenheit”, des Ergriffenseins von göttlicher oder dĂ€monischer Macht.

1.5 Die Bibel ist der Niederschlag einer langen, mehr als tausendjĂ€hrigen Glaubensgeschichte des israelitisch-jĂŒdischen Volkes. Jede Zeit und verschiedene soziale Gruppierungen haben ihre (auch widersprĂŒchlichen) Spuren darin hinterlassen. Theologisch gesprochen: Das Wort Gottes ist uns â€“ weil es wirklich und wahrhaftig „Fleisch” geworden ist – nur in geschichtlich-konkreten Erscheinungsformen, als „Schatz in irdenen GefĂ€ĂŸen”, zugĂ€nglich. Ein „Ewiges Wort” wĂ€re menschlich-sprachlich gar nicht auszudrĂŒcken, weil die Sprache selbst vergĂ€nglich ist. Und jede Übertragung in eine andere Sprache wĂ€re erst recht unmöglich. So ist alles und jedes, was die Bibel sagt, zeitgebunden und fĂŒr uns in dieser Zeitgebundenheit Anstoß und Richtschnur, die uns der Stellungnahme heute, in der jetzt fĂ€lligen Verantwortung gegenĂŒber dem Evangelium, keineswegs enthebt. Wir können keine Aussage der Bibel, so tief und gut sie auch sei, blindlings in unsere Zeit ĂŒbertragen. Vielmehr mĂŒssen wir jeden Satz unter Wahrnehmung unserer Umgebung, Auge in Auge mit den Menschen, die hier und jetzt leiden und hoffen, neu buchstabieren und oft genug ganz neu artikulieren.

1.6 Die HomosexualitĂ€t ist besonders in der christlichen Tradition zum Verbrechen erklĂ€rt worden. In blindem Eifer fĂŒr die „Heiligkeit Gottes” haben selbsternannte RechtglĂ€ubige die Minderheit der Homosexuellen verfolgt, gequĂ€lt, getötet, medizinisch behandelt und psychisch wie gesellschaftlich unter Druck gesetzt. Die Leidensgeschichte der Homosexuellen Ă€hnelt der mancher ethnischer und religiöser Minderheiten, der Qual der „Zauberer” und „Hexen” oder mancher politischer Gruppen in totalitĂ€ren Systemen. Sie belastet uns als eine schwere Hypothek christlicher Unduldsamkeit. Trotzdem gilt es, mit den uns zur VerfĂŒgung stehenden Mitteln der wissenschaftlichen Analyse die Funktion der Homosexuellengesetzgebung und der tatsĂ€chlich praktizierten Sitten jeweils situationsspezifisch zu erheben und mit unserer eigenen Situation zu vergleichen. HomosexualitĂ€t ist auch in biblischen Zeiten nicht immer und ĂŒberall gleich beurteilt worden. Deshalb haben wir bei der Untersuchung der alttestamentlichen Texte mit Unterschieden zu rechnen.

 

2   Das Gesamtzeugnis des AT im Überblick

2.1 Die alttestamentlichen Schriften erwĂ€hnen Homo- im Gegensatz zu HeterosexualitĂ€t selten. Das VerhĂ€ltnis von Mann und Frau zueinander ist ein konstitutives Element altisraelitischen Lebens; es scheint in allen Literaturgattungen des Alten Testaments (ErzĂ€hlungen; sĂ€kulare wie kultische Poesie; Rechts- und Weisheitstexte; Geschichtsschreibung; Genealogien usw.) durch. Gelegentlich wird es sogar zum zentralen Thema (Hohelied; Gen. 34; 38; Ri. 13; 19; 1 Sam. 1; 1. Kön. 11,1–6; 21,4–16; Prov. 7; 31,10–31; Esr. 10; Ps. 128 usw.). MĂ€nnliche HomosexualitĂ€t dagegen wird selten angesprochen, weibliche ĂŒberhaupt nicht. Auch die freundschaftlichen Beziehungen Gleichgeschlechtlicher finden relativ wenig Beachtung: Das Buch Rut erzĂ€hlt von der außergewöhnlichen Treue einer Schwiegertochter zur Schwiegermutter; der Freundschaftsbund Jonatans mit David ist ein mĂ€nnliches GegenstĂŒck (1. Sam. 18–20; 2. Sam. 1,17–27). Direkte Hinweise auf mĂ€nnliche HomosexualitĂ€t finden sich nur in Lev. 18,22 und 20,13 (hebr.: ĆĄakab 'Ă€t zakar miĆĄkebe 'iĆĄĆĄah, wörtlich: „mit einem Mann ein Frauenbeilager halten”). Die ErzĂ€hlungen vom Untergang Sodoms (Gen. 19) und von der Schandtat in Gibea (Ri. 19) haben ohne Zweifel homosexuelle Konnotationen: Beide Male verlangen die frevlerischen StĂ€dter, die sich vor der TĂŒr des Gastgebers zusammenrotten, mit gleich lautenden Worten die Auslieferung der mĂ€nnlichen GĂ€ste: „Gib sie uns heraus, damit wir sie ‚erkennen’ können” (hebr: hoĆĄi'em 'elenu wenede'ah 'otam: Gen. 19,5; Ri. 19,22). Das Verb jada', erkennen, ist bis in die deutschen Übersetzungen hinein als Umschreibung fĂŒr den Geschlechtsakt bekannt. MĂ€nner begehren MĂ€nner, allerdings eindeutig in einem kriminellen Zusammenhang.

Bei allen anderen alttestamentlichen Stellen, die in der Diskussion gelegentlich eine Rolle spielen, ist es zweifelhaft, ob ĂŒberhaupt homosexuelle Handlungen gemeint sind. Ham, der „Vater Kanaans, sah die BlĂ¶ĂŸe seines Vaters”. Und Noah, aus seinem Rausch erwacht, erfĂ€hrt, „was sein jĂŒngster Sohn ihm angetan hatte.” (Gen. 9,22.24). Das Verhalten der beiden anderen Söhne (rĂŒckwĂ€rts mit einem Tuch auf den Vater zugehen, um „seine Scham nicht zu sehen” [V. 23]) beweist, dass der bloße Anblick des unbedeckten Vaters schandhaft ist.

Die im Deutschen so genannten „Tempelhurer” (neben den „Tempeldirnen”) sowie „Hurenlohn” und „Hundegeld” (Dtn. 23,18f) mögen auf kultische Prostitution verweisen. Aber die hebrĂ€ischen (und anderen semitischen) Bezeichnungen, meistens ein Partizip vom Stamm qdĆĄ, „heilig sein”, „heiligen”, sagen zunĂ€chst etwas ĂŒber den Status des Geweihtseins, nichts aber ĂŒber damit möglicherweise verbundene sexuelle Praktiken aus. Samuel wird schließlich auch als Kind – und auf Dauer! – Jahwe ĂŒbergeben (1. Sam. 1,11.28); die NasirĂ€er weihen sich ihrem Gott auf Zeit (Num. 6,5.8). Und da die angeblichen sexuellen Orgien in vorderorientalischen HeiligtĂŒmern auf wenige, höchst dubiose Nachrichten griechischer Schriftsteller (vor allem Herodot, I, 199) zurĂŒckgehen, aus Originalquellen hingegen kaum zu belegen sind, mĂŒssen wir außerordentlich vorsichtig urteilen. Vor allem sind die ĂŒppigen Projektionen sexueller PerversitĂ€t auf die kanaanĂ€ische Religion kritisch zu untersuchen (vgl. H.M. Barstad; H. Ringgren, ThWAT VI, 1179ff).

Die deuteronomistische Verwendung der AusdrĂŒcke qedeĆĄah, qadeĆĄ (Dtn. 23,18f; 1. Kön. 14,24; 15,12; 22,47; 2. Kön. 23,7) geschieht im Kontext von stereotypen Denunzierungen des Abfalls zu fremden Gottheiten, ohne Spezifizierung der gottesdienstlichen Praktiken. Es genĂŒgt den Tradenten, die Errichtung von „HöhenheiligtĂŒmern”, „Mazzeben”, „AscherapfĂ€hlen”, „grĂŒnen BĂ€umen”, „AltĂ€ren”, „Götzenbilder” und dergleichen zu erwĂ€hnen. Das Volk Jahwes soll damit nichts zu tun haben. Die „Geweihten” beiderlei Geschlechts fallen den Reformmaßnahmen zum Opfer (ausfĂŒhrlich in 2. Kön. 23,4–20), nachdem die Tora sie ausdrĂŒcklich verboten hatte (Dtn. 23,18).

In Dtn. 23,16–26 findet sich eine lockere Aufreihung von Verboten, die in V. 16–21 reine Prohibitivform, in V. 22–26 eine konditionale Prohibitivform zeigen. Jeder thematisch geschlossene Satz ist fĂŒr sich zu lesen; V. 19 hat also ein eigenes Thema: Das Hereinbringen von „Hurengabe” und „Hundelohn” (= „schmutziges Geld”) in das Haus Jahwes. Dieser Satz erhellt nicht die QualitĂ€t der „Geweihten” in V. 18. Und von sexuellen Praktiken irgendwelcher Art ist bei den „Qedeschen” nicht die Rede.

Auch an den Stellen, wo Israels Abfall von Jahwe in sexueller Terminologie als „weghuren” von Jahwe oder „hinterher huren” hinter den fremden Gottheiten beschrieben wird, ist deutlich nicht von homosexuellen Praktiken die Rede. Hos. 4,12–19 ist ein exemplarischer Text. Der „Geist der Hurerei” treibt das Volk von Jahwe fort; die Hinwendung zu Fremdkulten wird mit der Untreue einer Frau verglichen. Israel ist in dieser Metaphorik die Braut bzw. Ehefrau Jahwes (vgl. Ez. 16; Jes. 62,4f), die sich anderen, mĂ€nnlichen Gottheiten hingibt. In der Praxis jedoch muss sich das Bild umkehren: Die MĂ€nner Israels ĂŒben den offiziellen Kult fĂŒr das Volk aus. Sie wenden sich Prostituierten zu: Im MT von Hos. 4,14 heißt es: „Ich will nicht ahnden die Hurerei eurer Töchter, den Ehebruch eurer BrĂ€ute. Aber sie gehen beiseite mit Huren und opfern zusammen mit geweihten Frauen, und das unverstĂ€ndige Volk wird niedergetreten.” Ob Kultprostitution gemeint ist, erscheint zweifelhaft, da – da auch sonst bei Hosea und Jeremia – reine Metaphorik vorliegen kann. Ist Kultprostitution im Spiel, dann auf jeden Fall nicht irgendeine homosexuelle Variante. – Die noch ausstehenden ErwĂ€hnungen von qedeĆĄim o.Ă€. tragen zur KlĂ€rung des Begriffes nichts bei: Hi. 36,14 bleibt undurchsichtig; in Gen. 38 ist die qedeĆĄah eine normale Prostituierte, die vielleicht euphemistisch als „Geweihte” bezeichnet wird.

Das Gesamtergebnis ist also recht mager. Kultprostitution ist – wenn sie ĂŒberhaupt in Israel oder seiner Umgebung vorkam – nicht als homosexuelle Praxis nachzuweisen. Homosexuelle Akte werden eindeutig nur in wenigen, ganz sicher in den Bereich der kultisch-rituellen Ordnung gehörigen Texten abgelehnt. DarĂŒber hinaus lĂ€sst sich in einigen ErzĂ€hlungen die Ablehnung von homosexueller Vergewaltigung, in anderen eine gewisse Sympathie fĂŒr gleichgeschlechtliche Liebe feststellen. Von homosexuellen, auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaften ist nirgends im Alten Testament die Rede. Die wirkliche LebensfĂŒhrung in Israel durch die Jahrhunderte und die wahrscheinlich unterschiedlichen Toleranzbreiten der Gesellschaft gegenĂŒber der HomosexualitĂ€t sind uns so gut wie unbekannt.

2.2 Diesem Mangel mĂŒssten wir dadurch abhelfen, dass wir vor allem die sehr viel umfangreichere Literatur des Alten Vorderen Orients zu Rate ziehen. Leider fehlen auch hier weithin grĂŒndliche Spezialuntersuchungen. Und manche Studien sind offenbar unter dem Einfluss christlicher Bewertungen der HomosexualitĂ€t durch eine a priori Ablehnung bestimmt. Weiter könnten auch Zeugnisse aus anderen Kulturen und Religionen, vorzugsweise auch aus noch bestehenden Stammesgesellschaften, Vergleichsmaterial bieten. Wegen der zeitlichen und rĂ€umlichen BeschrĂ€nkung kann ich hier nur kurze Andeutungen machen.

Aus dem Alten Vorderen Orient (Ägypten; Syrien; Arabien; Kleinasien; Mesopotamien) sind widersprĂŒchliche Einstellungen zur HomosexualitĂ€t ĂŒberliefert. Kultisch-rituell sind – wie in Israel auch – alle sexuellen Praktiken gefĂ€hrlich. Sie stören die HeiligkeitssphĂ€re, es sei denn, sie gehören in seltenen AusnahmefĂ€llen zum Gottesdienst, wie zeitweise die Heilige Hochzeit zum Neujahrsfest in Babylon (vgl. S. N. Kramer; J. Renger und J.S. Cooper in RA 4). Im Normalfall haben sich Priester der geschlechtlichen TĂ€tigkeit zu enthalten, um einer Verunreinigung des Heiligen vorzubeugen. Hethitische Dienstanweisungen fĂŒr Priester ordnen strenge generelle Sauberkeit an, die rational mit der Achtung vor den hohen Göttern begrĂŒndet wird (C. KĂŒhne in ATD Erg. 1, 201–204). HomosexualitĂ€t wird in rituellen Kontexten nicht erwĂ€hnt, aber das mit Todesstrafe belegte Verbot von geschlechtlichem Kontakt mit gewissen Tieren (Rind; Schaf; Schwein; Hund. Dagegen sind Pferd und Maultier freigegeben: E. von Schuler in TUAT I, 121–123. MĂ€nnerkontakte kommen nur in § 189 [a. a. O. 121f] in der verbotenen Vater-Sohn-Beziehung und zusammen mit der ebenfalls geĂ€chteten Mann-Mutter und Vater-Tochter-Beziehung vor) in den hethitischen Gesetzen scheint auf kultische Regeln zurĂŒckzugehen. Im mittelassyrischen Korpus findet sich eine klare Verurteilung einer homosexuellen Handlung: „Wenn ein Mann seinem Genossen beiwohnt, man es ihm beweist und ihn ĂŒberfĂŒhrt, soll man ihm beiwohnen und ihn zu einem Verschnittenen machen.” (R. Borger, TUAT I, 83). J. Bottero / H. Petschow meinen, der verurteilte Akt sei homosexuelle „Vergewaltigung”, weil der passive Partner straffrei ausgeht (RA 4, 461f). In den ĂŒbrigen „Gesetzessammlungen”, treten soweit sie erhalten sind, keine Strafandrohungen gegen Homosexuelle auf. Auch in diesen umfangreichen Literaturresten kultischer und rechtlicher Provenienz aus den Nachbarkulturen fehlen nicht von ungefĂ€hr Hinweise auf weibliche HomosexualitĂ€t.

Andere Literaturgattungen bieten ein differenzierteres Bild. Sprichwörter, Fabeln, ErzĂ€hlungen, MĂ€rchen gehen hier und da auf HomosexualitĂ€t ein, gelegentlich positiv, als sei der private Verkehr unter Gleichen ganz normal. Hinzu kommen allerlei bildliche Darstellungen schwuler Paare (J. Bottero / H. Petschow, RA 4, bes. 461; Hinweis z.B. auf Ch. Ziegler, Ausgrabungen der DFG 6, 1962, Taf. 10, Abb. 168 und S. 55). Die vielfach belegte Existenz von professionellen „Schwulen” im alten Babylonien rundet das Bild in etwa ab (J. Bottero / H. Petschow, a.a.O. 463–466).

Aus den altorientalischen Bezeugungen folgt: MĂ€nnliche HomosexualitĂ€t hat es ĂŒberall gegeben, und sie ist wahrgenommen worden. In unterschiedlichem Ausmaß wurde sie in bestimmten Zeiten, Gesellschaftsschichten und Kulturen und in bestimmten Lebensbereichen geduldet, gepflegt oder verdammt.

Bei einer Umschau ĂŒber heutige religiöse Stellungnahmen in Großreligionen und Stammesgesellschaften ergĂ€be sich ein ebenso vielschichtiges Bild (vgl. die entsprechenden Artikel in Mircea Eliade [Hg.], Encyclopedia of Religion).

2.3 Die sozialen Orte, an denen Äußerungen ĂŒber HomosexualitĂ€t geschehen, lassen sich mit einiger Sicherheit rekonstruieren. Wir können davon ausgehen, dass Hetero- und HomosexualitĂ€t auch in der Antike annĂ€hernd mit gleicher HĂ€ufigkeit auftraten wie heute auch. Die HeterosexualitĂ€t war absolut vorherrschend und wird in allen Kulturen gefördert. Das Überleben der Familien, Sippen und Völker hĂ€ngt von der Reproduktion ab. Die biologische Zweipoligkeit bei Mensch und Tier wird auch kulturell und religiös zur NormalitĂ€t, gegenĂŒber der homosexuelle Beziehungen einen Ausnahmezustand darstellen. Das biologisch offensichtlich Vorgegebene wird gesellschaftlich sanktioniert und erscheint als das „NatĂŒrliche”. Aber wie die SexualitĂ€t insgesamt – einschließlich EmpfĂ€ngnis, Zeugung, Schwangerschaft, Geburt – eine geheimnisvolle, nur der Gottheit durchsichtige, machtgeladene Erscheinung bleibt (vgl. Prov. 30,18f u. ö.), die mancherlei Ängste hervorruft, so auch die HomosexualitĂ€t als MinderheitsphĂ€nomen. Beide Formen der SexualitĂ€t gehören nach antikem VerstĂ€ndnis offensichtlich zu derselben tabuisierten SphĂ€re.

Im familiĂ€ren Bereich befĂŒrchtete der antike Mensch beim sexuellen Kontakt von MĂ€nnern vermutlich SchĂ€digungen des mĂ€nnlichen Körpers (vgl. W. Westendorf), der Manneskraft allgemein, ChimĂ€renbildungen, VernachlĂ€ssigung der Zeugungsverpflichtung (vgl. Gen. 38,9f: Onan lĂ€sst seinen Samen auf der Erde „verderben” und wird dafĂŒr mit dem Tod bestraft). Es waren auch Geschichten in Umlauf von gewalttĂ€tigen MĂ€nnerschĂ€ndern, die GĂ€ste durch Beischlaf entehrten, vergleichbar mit der EntblĂ¶ĂŸung der Delegierten Davids am Hof des Ammoniterkönigs (2. Sam. 10,4f). Im mittelassyrischen Gesetz werden – wie erwĂ€hnt – bestimmte StraftĂ€ter sexuell geschĂ€ndet und kastriert.

Die kultisch-rituelle SphĂ€re ist besonders sensibel gegenĂŒber allen sexuellen AktivitĂ€ten. Die Brautnacht galt als der besondere Tummelplatz von todbringenden DĂ€monen (vgl. Tobit, aber auch Gen. 38,6–11). Nur der sexuell Enthaltsame durfte mit dem Heiligen in BerĂŒhrung kommen (vgl. 1. Sam. 21,5–7: Davids MĂ€nner mĂŒssen kultisch rein sein, wenn sie die Schaubrote = Gottesspeise essen wollen). Diese rituelle Vorsicht gegenĂŒber dem Sexuellen, speziell der BerĂŒhrung der mĂ€nnlichen und weiblichen MachtsphĂ€ren, ist weit verbreitet. Sie wird in vielen Kulturen und Religionen geĂŒbt und geht auf Reinheitsvorstellungen und Vermischungs- oder BerĂŒhrungsĂ€ngste zurĂŒck (M. Douglas). Wenn schon die „normale” SexualitĂ€t fĂŒr den kultischen Raum gefĂ€hrlich sein kann, wie viel mehr muss die Minderheits-SexualitĂ€t mit Ă€ußerster Vorsicht umgeben werden.

Was in einigen Lebensbereichen als Gefahr erlebt wird, muss nicht generell verpönt und verboten sein. Die altorientalischen Bekenntnisse zur Lust an der MĂ€nnerliebe sprechen eine deutliche Sprache. Und der öffentliche Hang zur Knabenliebe in gewissen Kreisen der altgriechischen Gesellschaft ist nur die Spitze des Eisberges, wenn man die alten Kulturen im Ostmit­telmeergebiet betrachtet (K.J. Dover). Die „Liebes"geschichte Davids und Jonathans (1. Sam. 18–20) gehört in diesen Zusammenhang, ob sie „platonisch” gemeint ist oder nicht (gegen J.A. Thompson). Sie stellt eine intime MĂ€nnerfreundschaft dar, die wahrscheinlich auch sexuelle ZĂŒge hat (vgl. 2. Sam. 1,26), wie es in den Armeen aller Zeiten und aller Völker gang und gĂ€be war.

 

3   Die Verbote von homosexuellen Handlungen im Buch Leviticus

Wie oben dargestellt, muss sich die heutige Verdammung der HomosexualitĂ€t in erster Linie auf die beiden direkten Verbote Lev. 18,22 und 20,13 stĂŒtzen, denn es gibt sonst keine klaren alttestamentlichen Äußerungen zum Thema. Auch die zwischen- und neutestamentlichen Stellungnahmen zur Sache grĂŒnden mindestens zum Teil in der Leviticus- Tradition. Folglich ist die Interpretation der Leviticus-Stellen schwerpunktmĂ€ĂŸig wichtig (zum Folgenden vgl. E.S. Gerstenberger, ATD 6, 1993).

3.1   Der Kontext

Das Buch Leviticus ist ganz in den Sinai-Aufenthalt Israels (Ex. 19 bis Num. 10) hineinkomponiert. Damit wird es entscheidend wichtiger Teil der Toraoffenbarung, fĂŒr orthodoxe Juden das bedeutendste Buch schlechthin mit der grĂ¶ĂŸten Zahl von göttlichen Einzelgeboten. Aus der historisch-kritischen Sicht stellt sich Leviticus als eine unschĂ€tzbar reiche, vielstrĂ€ngige Sammlung Ă€lterer Überlieferungen dar, welche in der Exils- und Nachexilszeit in der frĂŒhjĂŒdischen Gemeinde zusammengestellt und -komponiert worden ist. Es handelt sich um eine Art Gemeindekatechismus. Er diente der gemeindlichen Organisation, der Lebensregelung der einzelnen Glieder im Alltag, der gottesdienstlichen Erbauung und Festigung, dem jahreszeitlichen Festzyklus. Verschiedene Interessen sind deutlich erkennbar: Die Tradenten und HĂŒter der Tora sind wohl in frĂŒhen Schriftgelehrtenkreisen zu suchen. Sie stellen sich hinter das große Vorbild des Mose und vermitteln an seiner Statt Ermahnung und Zuspruch fĂŒr alle Lebenslagen. Eng mit Mose verbunden aber sind Aaron und seine Söhne, die priesterliche Eintellungen verkörpern. Neben beiden FunktionstrĂ€gern steht die Gemeinde, die in Gestalt des Opferherrn (eines Laien! vgl. Lev. 1–7) auch noch kultische Rechte besitzt, weithin jedoch nur als angeredete und reglementierte Gemeinschaft auftaucht. Älteste (vgl. Lev. 4,15; 9,1; 19,32), AnfĂŒhrer (nasi', „Gemeindeleiter”? Lev. 4,22), Propheten, Leviten (Lev. 25,32f) sind im Buch Leviticus so gut wie unbekannt; Frauen, Sklaven, Fremde haben ganz selten einen aktiven Part. An der OberflĂ€che handeln vor allem die Priester, aber sie werden durch Mose, den Tora-Geber, ĂŒberragt. Die Gemeinde ist allerdings mit ihren Anliegen tonangebend prĂ€sent.

Die literarische Entstehung des Buches Leviticus ist in den Einzelheiten unerklĂ€rbar. Am wahrscheinlichsten ist ein redaktionsgeschichtliches Anwachsen der Texte parallel zu ihrem gottesdienstlichen und katechetischen Gebrauch. Dass grĂ¶ĂŸere Blöcke wie die Opfer- und Reinheitsgesetze sowie das „Heiligkeitsgesetz” (ein Widerspruch in sich? Kann Heiligkeit verordnet werden?) einmal unabhĂ€ngig vom Buch Leviticus bestanden und sukzessive eingefĂŒgt worden wĂ€ren, ist eher unwahrscheinlich (vgl. R. Rendtorff; F. CrĂŒsemann).

3.2   Sexuelle Tabus

Das Kapitel Lev. 18 ist aus mehreren Traditionen zusammengewachsen. Ein KernstĂŒck scheint die Liste der „verbotenen Verwandtschaftsgrade” in V. 7–16 zu sein, die der sexuellen PromiskuitĂ€t in der Großfamilie wehren sollte (K. Elliger). Den mĂ€nnlichen Mitgliedern der Familie werden sexuelle Kontakte zu anderen als den eigenen Frauen streng untersagt. Der verwendete Fachausdruck ist: „die BlĂ¶ĂŸe aufdecken”. So etwas tut man nicht! Wer die Tabus bricht, bringt Schande ĂŒber sich selbst oder den Mann, dem die „entblĂ¶ĂŸte” Frau zugeordnet ist. Von einer Beleidigung der Gottheit ist nicht die Rede. Es geht lediglich um gesellschaftlich geĂ€chtetes Verhalten. Die Aufnahme in den gegenwĂ€rtigen Textzusammenhang geschieht allerdings durch einen mit der Selbstvorstellungsformel Jahwes bekrĂ€ftigten Vordersatz (V. 6).

Der an eine Erweiterung der ursprĂŒnglichen Verwandtschaftsliste (V. 17f) anschließende Block V. 19–23 hat einen ganz anderen Charakter. Er will gefĂ€hrliche kultische Verunreinigungen, die ĂŒberwiegend auf sexuelle AktivitĂ€ten zurĂŒckgehen, verhindern. Beischlaf mit einer Menstruierenden (V. 19) oder mit einer verheirateten Nachbarsfrau (!! V. 20), Beilager mit einem Mann (V. 22) oder mit einem Tier (V. 23: hier wird ausdrĂŒcklich auch die Frau genannt!) sind untersagt, dazu das Kindesopfer an (??) Moloch (zum Molochproblem vgl. O. Kaiser; G.C. Heider). Die Bezugsperson ist nun eindeutig die Gottheit, die derlei „himmelschreiende” Untaten – die AusdrĂŒcke zimmah (V. 17), to'ebah (V. 22) und tĂ€bĂ€l (V. 23) sind synonym â€“ nicht zulassen will. Es geht also um schwere Verletzungen der göttlichen HeiligkeitssphĂ€re, aber nicht um das Zivilrecht. Das wird am Beischlaf mit der Nachbarin deutlich: Der kriminelle Aspekt des Ehebruchs wird ignoriert. Die Tat erscheint genau wie der vorhergehende Fall des Beischlafs mit einer Menstruierenden nur unter der Rubrik der kultischen „Verunreinigung”. Auch das Kinderopfer ist hier kein justiziables Verbrechen, sondern eine Entheiligung Jahwes. Der entsprechende abmahnende Satz: „damit du nicht den Namen deines Gottes entweihst; ich bin Jahwe” (V. 21b) ist der Dreh- und Angelpunkt des Abschnittes V. 19–23. Er nimmt die Unreinheitswarnungen von V. 19f auf und entlĂ€sst aus sich die SchĂ€ndlichkeitsformeln von V. 22f, so dass der ganze Passus vielstimmig widerhallt von der dringenden Warnung, Gottes IntimsphĂ€re durch kultisch verwerfliche Taten zu verletzen. Unter welchen UmstĂ€nden, von wem und fĂŒr wen ist so geredet worden? Offensichtlich sind uralte Reinheits- und Tabuvorschriften, die weit ĂŒber Israel hinaus bekannt und verbreitet sind (vgl. Mircea Eliade [Hg.], Encyclopedia of Religion, relevante Stichwörter) in einer fĂŒr unsere Augen willkĂŒrlichen Kombination zusammengestellt worden. Das priesterliche Interesse ist augenfĂ€llig, aber auch die Tatsache, dass die Anforderungen an Reinheit nicht fĂŒr Priester und nicht fĂŒr die heilige StĂ€tte (wie z. B. in Lev. 8,31–36) zugeschnitten sind. Sie sollen fĂŒr die ganze Gemeinde gelten. Das entspricht der verschiedentlich im Buch Leviticus und auch in Ex. und Dtn. anzutreffenden Ermahnung: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig” (Lev. 19,2; vgl. Ex. 19,5f; Lev. 11,44f; 20,7f; Dtn. 7,6 usw.). WĂ€hrend also der alte, familiĂ€re Tabu-Katalog einfach das festhĂ€lt, was unumstĂ¶ĂŸliche Sitte ist, will die Aufreihung von fĂŒnf kultischen Reinheitsgeboten (= Verunreinigungsverbote) die damals geschĂŒtzte SphĂ€re des Göttlichen, die aber wiederum identisch ist mit der Vorstellung vom Jahwe geheiligten Volk!, abschirmen. Wir mĂŒssen diese Gebote (Verbote) darum in Zusammenhang mit den ĂŒbrigen kultischen Reinheitsregeln des Buches Leviticus und des Alten Testaments sehen. Die in Lev. 18,19–23 angesprochenen Sachthemen weisen ja auch von selbst in diese ZusammenhĂ€nge. Die Menstruation und körperliche AusflĂŒsse beim Mann machen unrein (V. 19; Lev. 15). Die BerĂŒhrung oder der Genuss so genannter unreiner Tiere (von Pflanzen ist nicht die Rede) schließen von der Gemeinschaft mit Gott aus (Lev. 11). Kriminelle Handlungen können unter dem Gesichtspunkt des Ausschlusses vom Kult gesehen werden (V. 20; vgl. Lev. 19,11–16; Ez. 18). Gewisse Hauterkrankungen (spĂ€ter – mit unabsehbaren Folgen fĂŒr die Betroffenen! – als Lepra definiert) bedĂŒrfen sorgfĂ€ltigster Überwachung und können zur Ausgrenzung und Marginalisierung fĂŒhren (Lev. 13f). Homosexueller Verkehr unter MĂ€nnern und Tierbegattung durch Mann und Frau (V. 22f) finden noch am wenigsten einen Niederschlag in anderen Textgruppen. (Weil die Warnung vor HomosexualitĂ€t aber in den beschriebenen Text eingebettet ist, darf sie nicht völlig isoliert betrachtet werden.).  Nur das Moloch-Opfer, das als Höhepunkt der fĂŒnf Reinheitsregeln dient, steht in einem weiteren Wirkzusammenhang.

Der grĂ¶ĂŸere Rahmen von Lev. 18, das sind die Verse 1–5 und 24–30, warnt die Israeliten davor, sich an der Lebensweise der KanaanĂ€er zu orientieren und die SchĂ€ndlichkeiten zu begehen, die eben in den beiden so unterschiedlichen Vorschriftensammlungen ausgebreitet wurden. Lev. 20,1-5 fĂŒgt ausdrĂŒcklich das Molochopfer als verabscheuenswerten Götzendienst hinzu. Der Gedanke, dass sexuelles Fehlverhalten typisch fĂŒr die vertriebenen Ureinwohner PalĂ€stinas war, ist gegenĂŒber den Vorschriftenblöcken neu. Er reflektiert sich höchstens in V. 21. Im Rahmen aber wird er wortreich ausgefĂŒhrt. Es tritt also ein neues Motiv in den Textzusammenhang ein: die Abgrenzung von den anderen Völkern. Schon im Deuteronomium und den damit verwandten Textschichten spielt dieser Gedanke eine große Rolle. Wir sehen eine dritte Überlieferung am Werk: nach dem Familienethos und der Gemeindeheiligung jetzt die Abschottung der Gemeinde nach außen. Der Vorwurf sexueller Perversion gegen benachbarte, aber verfeindete Gruppen ist ein in der Menschheitsgeschichte sehr beliebtes Mittel der eigenen Profilierung (vgl. C. Levi-Strauss; Allport). Dass die Verfasser der RahmenstĂŒcke augenscheinlich die „Heiligkeit” Gottes auch auf das Land Israels ĂŒbertragen (V. 25.27.28), sollte als Besonderheit angemerkt werden. Die Bewohner â€“ Israeliten oder KanaanĂ€er â€“ können es verunreinigen, so dass „das Land”die Menschen, die es ernĂ€hrt, „ausspuckt” (vgl. auch Lev. 20,22). Der eigentĂŒmliche Ausdruck erscheint nur hier; er erinnert an die KreativitĂ€t der Mutter Erde in Gen.. 1,11f.24 und dĂŒrfte auf vorisraelitische Vorstellungen von einer Erdgöttin zurĂŒckgehen (vgl. Ps. 139,15). Dann wĂ€re ursprĂŒnglich sie die durch Verunreinigungen beleidigte Gottheit.

3.3   Die Funktion von Lev. 18,22

Es ist sicherlich nicht leicht, das Verbot homosexueller Praktiken im Zusammenhang der kultisch-gemeindlichen Reinheitsvorschriften von unseren andersgearteten Voraussetzungen her zu verstehen. Nicht gemeint sind in Lev. 18,22:

  • moralische Verwerflichkeit der HomosexualitĂ€t, denn der individuelle Entschluss zur Gleichgeschlechtlichkeit steht nicht zur Debatte. Es zĂ€hlt lediglich die Tat an sich (wie bei der Menstruation in V. 19 das Faktum an sich).
  • ethische Bewertung von MĂ€nnerbeziehungen jeder Art, denn im ganzen Textzusammenhang spielt allein das Moment der Verunreinigung bzw. Entweihung der göttlichen SphĂ€re eine Rolle.
  • strafrechtliche Sanktionen gegen Homosexuelle, denn die AusdrĂŒcke der Abscheu drĂŒcken nur die Unvereinbarkeit der homosexuellen Handlung mit der göttlichen Reinheit bzw. Heiligkeit aus (ebenso ist in V. 20 keine rechtliche Verfolgung intendiert).
  • Unterscheidungen von homosexueller PrĂ€gung (Orientierung) eines Mannes und bloßer Gelegenheitshandlung. Diese Differenzierung ist den Alten unbekannt, und es kommt ihnen nur auf den objektiven Vollzug eines MĂ€nnerbeischlafes an.
  • eine besondere Hervorhebung der HomosexualitĂ€t, denn das Verbot V. 22 steht gleichgewichtig neben den anderen vier Vergehen; diese wiederum reihen sich ein in die o. g. weiteren Reinheitskataloge.

Wie aber sollen wir aus unserer sĂ€kularisierten und rationalisierten Erfahrungswelt die Verletzung der HeiligkeitssphĂ€re begreifen? Die in Lev. 18,19–23 Akte sind – ohne jeden Bezug auf ihre ethische QualitĂ€t oder praktische NĂŒtzlichkeit – per se gefĂ€hrliche Herausforderungen dĂ€monischer oder göttlicher Reaktionen. Es gibt auch in modernen Gesellschaften Handlungen Ă€ußerster Schamlosigkeit, die tabuisiert sind, horrende KriminalfĂ€lle, die uns einen Schauer ĂŒber den RĂŒcken jagen oder aber – der Vergleich erfordert einen Sprung auf eine andere Ebene – gefĂ€hrliche wissenschaftliche, militĂ€rtechnische Experimente und Verfahren, die Katastrophen fĂŒr viele Menschen heraufbeschwören. Nach dem damaligen altorientalischen WeltverstĂ€ndnis und der israelitischen Definition von „Heiligkeit” als einer in Tempel und Gemeinde bestehenden Zone (im RahmenstĂŒck V. 25 ist es das Land Israels, das ganz und gar heilig sein soll! s. o.) göttlicher Kraft waren bestimmte sexuelle Praktiken, körperliche Befindlichkeiten, Fleischspeisen, Erkrankungen und Missbildungen aus der Sicht der (priesterlichen) Gemeindeleitung unvereinbar mit Kraftfeld Gottes. Ein Fehlverhalten konnte das heilvolle, reine System zur Explosion bringen. Diese Vorstellung von der absoluten Heiligkeit eines Bereiches, einer Gemeinde ist – mit wechselnden Akzentsetzungen – hĂ€ufig in der Religionsgeschichte belegt, man vergleiche die Gemeinschaft von Qumran (vgl. G. Jeremias), die ersten christlichen Gemeinden oder auch die puritanischen Siedlungen in den USA (R.R. Niebuhr). Die jeweils angewendeten Reinheitskriterien verĂ€ndern sich sehr rasch unter dem Einfluss spezifischer Lebensbedingungen.

3.4   Todesdrohungen (Lev. 20)

Die alttestamentliche bzw. frĂŒhjĂŒdische Tradition ist nicht bei den verschiedenen Reinheitsvorschriften, wie sie in Lev. 11–15; 17–18 festgehalten sind, stehen geblieben. Das Kapitel Lev. 19 – oftmals als eine Perle ethischer Besinnung beschrieben – wiederholt die Heiligkeitsforderung (V. 2) und sammelt sehr unterschiedliche Verbote und Gebote, die von der „heiligen” Gemeinde eingehalten werden sollen, damit jede Verletzung der göttlichen SphĂ€re vermieden werde. Neben Opfer-, Kult- und Ackerbauregeln stehen wichtige Sozialnormen, die fĂŒr unser Empfinden im Gebot der NĂ€chsten- und Feindesliebe gipfeln (V. 18.34). Die thematische Breite der Sammlung ist erstaunlich; wo Sanktionen gegen Übertreter genannt werden, fallen sie ganz verschieden aus: „scheußlich ist es, es bringt kein Wohlwollen ... derjenige wird ausgemerzt” (V. 7f); „Schadenersatzpflicht ..., die beiden sollen nicht sterben”, eine EntsĂŒhnung ist vorgeschrieben (V. 20–22); „es fĂŒllt sich das Land mit Schande” (V. 29). Das sind schwer verstĂ€ndliche Differenzen bei den Reaktionen auf Verletzung der Heiligkeit; die allermeisten Bestimmungen reden jedoch ĂŒberhaupt nicht vom Übertretungsfall. Man hat insgesamt den Eindruck, dass trotz der eindringlichen Überschrift mehr vom praktischen Alltagsleben und weniger von der akuten Heiligung der Gemeinde gehandelt wird.

Dieses Bild Ă€ndert sich wieder in Lev. 20. Das Kapitel fĂ€llt in Ton und Themen zurĂŒck auf Lev. 18, setzt aber eigene Schwerpunkte.

Der Gesamtrahmen geht auf Molochopfer, Beschwörer und Mantiker als Formen der Abgötterei ein (V. 1–6; mit Nachtrag V. 27!), wiederholt die Heiligkeitsforderung und schĂ€rft die strikte Beachtung der „Weisungen” ein (V. 7f), und beschreibt parallel zu Lev. 18,24–30 das VerhĂ€ltnis Israels zum verheißenen Land (V. 22–24). Allerdings erfordert die Reinerhaltung des Landes eine strenge Absonderung (Stichwort: bdl, hiph., auch in Gen. 1 = P verwendet!) sowohl von den Völkern wie von den unreinen Tieren (V. 24f; vgl. Lev. 11). Auf dieser Forderung liegt im abschließenden RahmenstĂŒck der Hauptakzent; den letzten Satz bildet dann die erneuerte Heiligkeitsforderung (V. 26).

Der Kern von Lev. 20 besteht wieder aus Normen (V. 9–21), die jedoch nicht, wie in Lev. 18, im Prohibitivstil gehalten, sondern a) zweckentsprechend als Tat- und Tatfolgebeschreibungen stilisiert und b) in anscheinend willkĂŒrlicher Folge die Themen der beiden Prohibitivreihen von Lev. 18 aufnehmen. Beide Eigenheiten sprechen dafĂŒr, dass Lev. 20 eine Überarbeitung von Lev. 18 darstellt. Der Grund lĂ€sst sich erraten: Den Überlieferern genĂŒgten die bloßen Verdammungsurteile („GrĂ€uel”; „Scheußlichkeit” usw.) nicht. Sie wĂŒnschten konkrete Todesdrohungen fĂŒr die angezeigten FĂ€lle schwerer Entweihung des Heiligen. Darum setzten sie den neu formulierten Vorschriften siebenmal die Tatfolge hinzu: „Wer [das und das tut], muss sterben” (V. 9–16).

Die so genannten mot jumat-Reihen sind von Albrecht Alt entdeckt worden (vgl. A. Alt, UrsprĂŒnge) Er und fast alle seine Nachfolger hielt sie fĂŒr eine Art unbedingten, harten, volksgebunden jahwistischen Rechts. Aber diese Definition von RechtssĂ€tzen ist nicht nur in der heutigen Rechtswissenschaft unbekannt, sondern scheint auch auf eine spezielle Diskussionslage in der Weimarer Republik zurĂŒckzugehen, als um eine VerschĂ€rfung des deutschen Strafrechts gekĂ€mpft wurde (vgl. E.S. Gerstenberger, „Apodiktisches Recht”).

Die Überlieferer von Lev. 20,9–16 haben zur VerstĂ€rkung ihres Urteils noch fĂŒnfmal den Ausdruck „Blut/Blutschuld” (hebr.: dam/damim) hinzugefĂŒgt (V. 9.11.12.13.16) und auch den Dreiklang tĂ€bĂ€l, to'ebah, zimmah = „Scheußlichkeit” (V. 12.13.14) nicht ganz vergessen. Aber die ganze Ausdrucksweise (pseudo-kasuisticher Stil ohne UnterfĂ€lle; emphatische Urteilsansage; fehlende Löse- oder SĂŒhnemöglichkeit usw.) weist darauf hin, dass es sich bei derartigen  Todesdrohungen  n i c h t  um regulĂ€res Recht, das vor Ältestenkollegien verhandelt worden wĂ€re, handelt, sondern eben um ein spezielles „Gottesrecht”, welches autoritĂ€r und ohne institutionelle Vollstreckung verkĂŒndet wurde. Es handelt sich um einen von Gott selbst zu vollstreckenden Spruch, vgl. das Verdammungsurteil des geistlichen Oberhirten Khomeini gegen Salmon Rushdie.

Sehr seltsam mutet an, dass der zweite Teil der Strafandrohungen (V. 17–21) zwar grĂ¶ĂŸtenteils auf das Material von Lev. 18 zurĂŒckgreift, aber die NormsĂ€tze nicht mehr mit einem „der muss sterben” enden lĂ€sst, sondern mit verschiedenen, offenbar immer mehr abgemilderten Sanktionen schließt. Vielleicht sind die milderen SchĂŒler der gestrengen Todesdroher von V. 9-16 am Werk gewesen. V. 17 verbietet sexuelle Kontakte zur Halbschwester und droht mit „Ausrottung” (vgl. Lev. 18,9). Die gleiche Strafe erfahren Mann und Frau, die wĂ€hrend der Monatsblutung den coitus vollziehen (V. 18; vgl. Lev. 18,19). Wer dagegen mit einer Tante vĂ€terlicher- oder mĂŒtterlicherseits schlĂ€ft, wird lediglich mit den schlimmen Folgen seiner Tat bedroht (V. 19; der Satz hĂ€lt sogar an der direkten Anrede der Vorlage fest, vgl. Lev. 18,12f). In Ă€hnlicher Weise hat derjenige „seine Schuld auf sich zu nehmen”, der mit der Frau seines Onkels schlĂ€ft (V. 20: hier wird der Terminus „Onkel” verwendet, im Paralleltext Lev. 18,14 heißt es „Bruder des Vaters”). Nur fĂŒgt jemand hinzu: „Kinderlos werden sie sterben” (V. 20b). Das klingt wie eine Konkretisierung der Strafandrohung. Der letzte Fall heißt in seiner ganzen LĂ€nge:

Jeder, der die Frau seines Bruders nimmt: Das ist eine Unreinheit.

Er hat die Scham seines Bruders aufgedeckt; sie bleiben kinderlos. (V. 21; vgl. Lev. 18,16)

Kinderlosigkeit ist sicher auch im VerstĂ€ndnis der Altvorderen eine andere Strafe (vgl. 2. Sam 6,23) als die sofortige Hinrichtung eines ÜbeltĂ€ters. Außerdem reimt sich diese ermĂ€ĂŸigte Ahndung in keiner Weise mit dem Konzept einer entweihten ReinheitssphĂ€re, die doch sofort wiederhergestellt werden muss. Wir können aus der unterschiedlichen Festsetzung der Strafbestimmungen in V. 9–16 und 17–21 auf verschiedene Redaktionsstufen und erheblich differierende Einstellungen zur Heiligkeitsthematik und -bestimmung schließen.

Gehen wir zu dem scharfen Sanktionskatalog V. 9–16, in dem sich auch die Verurteilung von homosexuellen Handlungen findet, zurĂŒck. Der erste Satz hat mit sexuellen „Perversionen” nichts zu tun: „Wer Vater oder Mutter flucht, der muss sterben.” (V. 9; vgl. Ex. 21,17; Dtn. 27,16). Die Drohung hat kein Pendant in Lev. 18. Sie ist wohl aus der Exodus-Reihe „todeswĂŒrdiger Verbrechen” (Ex. 21,12–17) importiert. Danach erst beginnen die Sexualtabus: An erster Stelle steht das jetzt gegen Lev. 18,20 als „Ehebruch” deklarierte Abenteuer mit der Frau des Nachbarn (V. 10: na'ap, wie in Ex. 20,14 u.ö.). Man weiß nicht recht, ob hier wirklich eine Bearbeitung von Lev. 18,20 oder eine Verwendung der Ehebruchsverbote vorliegt. Dann wird der sexuelle Kontakt zur Frau des Vaters und der eigenen Schwiegertochter untersagt (V. 11f; vgl. Lev. 18,8.15), also eine erste Auswahl aus der Liste der „verbotenen Verwandtschaftsgrade” getroffen. Die weiteren Bestimmungen dieses familiĂ€ren Kataloges erscheinen (auch nicht vollstĂ€ndig) erst im zweiten Teil des Strafkataloges mit modifizierten Drohungen (V. 17–21: in der o.g. Reihenfolge: Lev 18,9. [19].12.13.14.16). Das bedeutet: FĂŒr die radikale Gruppe der TodessĂ€tze mot jumat, „er muss sterben”, suchen die Überlieferer aus den beiden Kernblöcken von Lev. 18 noch folgende Verbote heraus: Homosexuelle Handlungen (V. 13; vgl. Lev. 18,22) – Geschlechtsverkehr mit Frau und deren Mutter (V. 14; vgl. Lev. 18,17f) – „Tierschande” von Mann und Frau (V. 15f; vgl. Lev. 18,23). GegenĂŒber Lev. 18 erscheint die Achterreihe der Todesdrohungen seltsam verkĂŒrzt und willkĂŒrlich. Wir mĂŒssen uns fragen, welches die Kriterien zu ihrer Aufstellung gewesen sind. Vielleicht sind nur exemplarisch die schlimmsten Verbrechen gegen die Heiligkeit der Gemeinde ausgewĂ€hlt worden. Von den alten „verbotenen Verwandtschaftsgraden” der Großfamilie wĂ€ren dann lediglich der Beischlaf mit der Stiefmutter und der eigenen Schwiegertochter (V. 11f) in den Todeskatalog gekommen. Die ĂŒbrigen FĂ€lle stammen entweder aus ganz anderen ZusammenhĂ€ngen (Elternfluch: Ex. 21,17), oder aus dem Anhang zum Familienkatalog (V. 14; vgl. Lev. 18,17f), oder aber – und das dĂŒrfte wichtig sein – aus der zweiten Liste der verunreinigenden sexuellen Handlungen von Lev. 18,19–23.

Das trifft – wenn man den Ehebruchspassus V. 10 mit berĂŒcksichtigt – auf vier von acht „Todes”sĂ€tzen zu: Lev. 20,10.13.15.16: Ehebruch – homosexuelle Handlungen des Mannes – Verkehr mit Tieren von Mann – und Frau stehen unter dem Todesbann. Damit ist einerseits die enge Verbindung dieser Überlieferung mit der Unreinheitsabwehr von Lev. 18,19–23 erwiesen, andererseits die Frage gestellt, wie die Todesliste zu verstehen sei.

Todesdrohungen werden bei besonders schweren GefĂ€hrdungen der Gemeinschaft ausgesprochen (vgl. Ex. 21,12–17; Gen. 2,17; Lev. 24,16f; 27,29; Num. 15,35; Ez. 18,13), sie sind in ihrer Wirkung den FlĂŒchen ĂŒber Gesetzesbrecher (vgl. Dtn. 27,15–26: Der Fluchdodekalog enthĂ€lt Verdammungen sozialer und kultischer Untaten, aber auch vier sexueller Delikte [V. 20–23]: Beischlaf mit der Frau des Vaters – mit Tieren [ohne ausdrĂŒckliche Spezifizierung] – mit seiner eigenen [Halb]Schwester – mit der Schwiegermutter. Es fehlt jeder Hinweis auf homosexuelle Handlungen). Gegenbeispiel sind die anscheinend als leichter eingestuften, darum „bis zum Abend” oder zur EntsĂŒhnung anhaltenden Verunreinigungen durch BerĂŒhrung unreinen Getiers (Lev. 11,24–43; vgl. 20,25). Die VerschĂ€rfung der Unreinheitsvorschriften im Todeskatalog von Lev. 20,9–16 stellt also eine Auswahl von acht besonders gefĂ€hrlichen, die Heiligkeit der Gemeinde zerstörenden, vorwiegend sexuellen Handlungen dar. Nach Form und Inhalt handelt es sich nicht um RechtssĂ€tze aus der Torgerichtsbarkeit (dazu vgl. H.-J. Boecker; H. Niehr), sondern um predigtartige Texte. Ein exilischer Gottesdienstleiter eifert gegen bedrohliches Sexualverhalten. Er ĂŒberhöht die geltenden Reinheitsvorschriften durch massive Todesandrohungen, die nach Art eines Fluches selbst wirkend die UntĂ€ter vernichten sollen. Nur einmal wird durch die Überlieferer die Verbrennung der ÜbeltĂ€terinnen und des TĂ€ters verordnet (V. 14; vgl. Gen. 38,24), eine erhöhte Strafe, die gegenĂŒber der sonst angezeigten Steinigung (vgl. Lev. 24,16; Dtn. 21,21; 22,24 u. ö.) selten verhĂ€ngt wird. Der Katalog lĂ€sst auf eine besondere SensibilitĂ€t gegenĂŒber sexuellen Vergehen schließen, ohne dass wir die genaue Veranlassung dieser Todesdrohungen abschĂ€tzen können. Es ist jedenfalls signifikant, dass der nahe verwandte Text Dtn. 27,15–26 die GefĂ€hrdung ĂŒberwiegend bei sozialen Vergehen erkennt und dass er im sexuellen Bereich zwar den Verkehr mit Tieren denunziert (V. 22), aber homosexuelle Handlungen außer Acht lĂ€sst. Das gilt fĂŒr den ganzen Bereich der dtn/dtr Gesetzgebung, des Bundesbuches (auch hier nur Verurteilung der „Tierschande”: Ex. 22,18), und der ezechielischen Kultvorschriften (Ez. 40–48). Selbst die stark um priesterliche Reinheit bemĂŒhten notae justi in Ez. 18,5–9 spielen zwar auf zwei Bestimmungen aus dem Unreinheitskatalog von Lev. 18,19f direkt an (V. 6), verzichten indessen auf die Aufnahme der drei folgenden SĂ€tze. Und das große Unschuldsbekenntnis des Hiob (Hi. 31) enthĂ€lt unter den Beteuerungen, keiner schweren sozialen Vergehen schuldig zu sein lediglich eine sexuelle ErklĂ€rung: keinen Ehebruch begangen zu haben (V. 9–12). Die kultische Verunreinigung kommt nicht vor. – Fazit: Das erstaunliche Fehlen des Tatbestandes „homosexuelle Handlung” in allen Rechtsmaterialien des Alten Testaments bei gelegentlicher Nennung des eng verwandten Tatbestandes „Tierverkehr” lĂ€sst nur den Schluss zu, dass Lev. 20,9–16 einen Sonderfall im Kampf um Reinheit und Heiligkeit der Gemeinde darstellt. Die einseitig sexuell orientierten Todesdrohungen reflektieren eine Gemeindesituation und eine priesterlich- schriftgelehrte MentalitĂ€t, die sexuelles Fehlverhalten als die Wurzel alles Übels erkannten. Im Bereich der RechtsĂŒberlieferungen und der Gemeindeorganisation findet sich dieses Motiv sonst nicht. Vergleichbar, aber anders akzentuiert, sind die ErzĂ€hlungen von der weiblichen VerfĂŒhrung zum Abfall von Jahwe (Gen. 3; Dtn. 13,7; 17,17; 1 Kön. 11,1–6; 21,5ff; Esra 10; Neh. 13,23ff).

3.5   Sozial- und Denkstrukturen

Texte und ihre theologischen Aussagen entstehen nie in einem Vakuum. Sie sind fest verankert in gesellschaftlichen, religiösen Strukturen sowie Denkmodellen, welche – wenn man den Begriff weit fasst (vgl. M. Bonino; J.L. Segundo u. a.) – ideologische Funktionen erfĂŒllen. In der alttestamentlichen Wissenschaft herrscht Einigkeit darĂŒber, dass die „priesterlichen” Bearbeitungen der Reinheitsvorschriften und das tragende Modell der Heiligkeit Jahwes und seiner Gemeinde SpĂ€tprodukte der israelitischen Überlieferung sind. Man wird die redaktionellen Ausformungen von Lev. 18–20 in das fĂŒnfte Jhdt. oder frĂŒhestens an das Ende des 6. Jhdt.s setzen dĂŒrfen (gegen wenige Forscher). Die damals in Israel bestehenden Strukturen und Modelle sind der Hintergrund der besprochenen sexuellen Tabus.

Die Gesamtsituation Israels in jener Zeit ist ebenfalls deutlich (vgl. H. Donner; P. Ackroyd): Mit dem Fall Jerusalems im Jahre 587 v. Chr. waren davidische Monarchie und Eigenstaatlichkeit dahin. Israel existierte hinfort als das Volk Jahwes mit verstreuten Wohnsitzen in Juda (Samaria), Babylonien und Ägypten. Der Tempel wurde nach 525 v. Chr. mit persischer Hilfe wieder aufgebaut, es entstand ein z. T. tempel- und Jerusalem-orientiertes Gemeinschaftsbewusstsein, das jedoch viele nicht zentralistisch angelegte Momente enthielt: Tora, Feste, Sabbat, Beschneidung, wahrscheinlich auch sehr bald lokale Gottesdienste (vgl. M. Haran).

FĂŒr das tĂ€gliche Leben der Juden war darum die Priesterschaft in Jerusalem mit ihrer AutoritĂ€t vermutlich weniger wichtig als die Orts-gemeindliche Infrastruktur. Mit einer priesterlichen Theokratie, welche Glauben und Leben ganz bestimmt hĂ€tten, sollte man nicht rechnen (vgl. O. Plöger; gegen M. Clevenot). Die Leviticus- Texte sind trotz ihrer z. T. stark kultischen Interessen keine priesterliche Berufsliteratur. Zu stark sind Gemeindeinteressen vertreten, wenn auch bei Gehaltsfragen anscheinend priesterliche Forderungen erstaunlich weitgehend erfĂŒllt werden (Lev. 6,9–11.19–23; 7,8–10.32–34 u. ö.).

Sehr aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die besonderen Priestervorschriften von Lev. 21f. Sie zeigen, dass die Heiligkeit der Priesterschaft von der Heiligkeit der Gemeinde hergeleitet wurde, vgl. E.S. Gerstenberger, Ihr sollt heilig sein. Was die Reinheitsvorkehrungen speziell fĂŒr den Priesterberuf angeht, so sind erwartungsgemĂ€ĂŸ die Anforderungen hoch. Der Priester kommt schließlich am Altar direkt mit der göttlichen SphĂ€re in BerĂŒhrung, vgl. auch die Kleiderordnung fĂŒr Priester (Ex. 28; 39; Lev. 8,6–9). Doch gehen sie – gestaffelt fĂŒr den einfachen Priester und den Hohepriester – nur bei der Toten-Verunreinigung, den Ehe-auflagen und bei körperlichen Missbildungen geringfĂŒgig ĂŒber die allgemeinen Bestimmungen hinaus (Lev. 21,1–8.10-15.17–21). Bedeutsam fĂŒr unser Thema ist dabei die Tatsache, dass unter der Heiligkeitsforderung (Lev. 21,8) die Heiligkeits- und ReinheitsansprĂŒche fĂŒr Priester noch einmal, und wohl im Blick auf die diesbezĂŒglichen Abschnitte in Lev. 11–20, aufgezĂ€hlt werden. Körperliche Fehler fĂŒhren zum Berufsverbot (Lev. 21,18–20), hindern aber nicht den Verzehr heiliger Speise – denn von ihrem Anteil an den Opfergaben musste die ganze Priesterfamilie einschließlich der etwa missgebildeten Kinder leben (Lev. 21,22). Bei zeitweiser Unreinheit ist allerdings bis zur Wiedererlangung des reinen Zustandes auch die BerĂŒhrung mit heiliger Speise untersagt (Lev. 22,3–6). Wichtig ist, dass unter den „erworbenen” Unreinheiten nur Hautkrankheit (vgl. Lev. 13f), AusflĂŒsse (Lev. 15), BerĂŒhrung eines Toten (Lev. 21,1–4; Num. 19,11.16), Samenerguss (Lev. 15,16–18), BerĂŒhrung von Kleingetier oder sonstigem Unreinen (Lev. 11,41–44), also die kurzfristige Unreinheit auslösenden Vorkommnisse erwĂ€hnt sind. Die schweren sexuellen Vergehen von Lev. 18 und 20 finden in den Priesterregelungen keine Beachtung.

So sehen wir in Leviticus eine wahrscheinlich in Ortsgemeinden organisierte Religionsgruppe vor uns, die sich eng um ihre Glaubenstradition schart, und unter der Leitung von SchriftverstĂ€ndigen (Prototyp: Esra!) und im Schatten des großen Gesetzgebers Mose ein System von kultischen, ethischen und rechtlichen Normen entwickelt. Die Vorstellungen von der Heiligkeit Jahwes, seines Volkes, seines Tempelbezirks und der GegenstĂ€nde und Opfer in ihm, seines Landes kommen ursprĂŒnglich aus priesterlichen Traditionen, wie sie ĂŒberall im Alten Orient gepflegt wurden. Sie haben nichts spezifisch Jahwistisches an sich, wie das ganze Kultwesen bis auf die Bildlosigkeit der Jahweverehrung durch und durch vorderorientalische ZĂŒge hat (R. de Vaux u.a.). Diese Heiligkeitstraditionen werden im nachexilischen Israel anscheinend von Priestern, Leviten und anderen Gemeindeleitern einschließlich der Tora-Lehrer verwaltet (vgl. die Weiterbildung der Reinheitsregeln in der Tempelrolle von Qumran [J. Maier] und in der Mischna) und auch auf das Alltagsleben außerhalb von heiligen Orten und heiligen Zeiten angewendet (vgl. die Speise-, Hautkrankheits- und Ausflussbestimmungen in Lev. 11–15).

Dass die leitenden MĂ€nner in den frĂŒhjĂŒdischen Gemeinschaften gerade mit den so tief in das Alltagsleben eingreifenden Reinheitsbestimmungen eine erhebliche Macht ĂŒber die Gemeinde bekamen, liegt auf der Hand. Die „Priester” werden ja auch Schiedsinstanz in strittigen Fragen, so z. B. bei der Beurteilung von Hautkrankheiten und dem Schimmelbefall an GebĂ€uden und Textilien (Lev. 13f). Sie definieren ohne Berufungsmöglichkeit, ob gefĂ€hrliche oder harmlose Erscheinungen vorliegen, sie verfĂŒgen damit ĂŒber den Ausschluss Erkrankter (vgl. Lev. 13,45f) oder den Abriss eines Wohnhauses (Lev. 14,45). Reinheitsvorschriften und daraus entstehende Todesdrohungen und Fluchworte sind also erhebliche Machtmittel in der Hand der tonangebenden frĂŒhjĂŒdischen Elite. Es ist allerdings nur menschlich, wenn auch in dieser FĂŒhrungsschicht Spannungen, Gruppenbildungen und FlĂŒgelkĂ€mpfe aufbrechen. Der Gesetzesvermittler Mose steht ĂŒber dem Urpriester Aaron und der von ihm begrĂŒndeten erblichen Priesterschaft (vgl. Lev. 8,31–36 u. ö.), aber auch in einem gewissen Konflikt zu ihm und ihr: Er hat ihn und sie gelegentlich zu rĂŒgen (Lev. 9,16–20). Im Priesterstand regen sich Oppositionsgruppen, aufstrebende Levitenfamilien fordern neue Rechte (vgl. Lev. 10,1–7; Num. 16). Das Monopol „zu unterscheiden, was heilig und was profan, was unrein und was rein ist, und Israel alle Vorschriften zu lehren, die Jahwe durch Mose gegeben hat” (Lev. 10,10f) ist mithin ein begehrtes und umstrittenes Privileg, bei dem die Gemeinde selbst durch ihre nichterblichen Leiter und SchriftsachverstĂ€ndige, aber wohl auch immer wieder durch Gemeindeglieder, auch Frauen (vgl. Num. 12) Einfluss genommen hat.

Das Sexualethos eignet sich als Zuchtmittel in der Hand leitender Personen. Keine Gesellschaft ist ohne eine herkömmliche Reglementierung der sexuellen Praxis. Darum können Gruppenchefs und andere AutoritĂ€ten die traditionellen Regeln aufgreifen, weiterbilden und zur Disziplinierung ihres Klientels benutzen. Im Fall der Leviticus Bestimmungen scheint genau das eingetreten zu sein. Die Ă€ltesten Familientabus, welche unerlaubte Kontakte in der Großfamilie benennen und verunmöglichen sollen, sind bei der Komposition von Lev. 18 in ein System von Reinheitsvorschriften integriert worden und in Lev. 20 selektiv zu einer Liste von Todesdrohungen zusammengestellt. Die Verwandlung der Gattungen und der Fortgang der Textkomposition lassen einen bewussten Prozess der Machtanreicherung vermuten. Die Androhung von Todesstrafen (bzw. Ausrottung; Kinderlosigkeit) geschieht zwar im Namen des Gottes, der Heiligkeit von seinen AnhĂ€ngern erwartet, sie wird aber durch menschliche Mittler (die definitiv keine rechtlichen Funktionen wahrnehmen) mitsamt der göttlichen SphĂ€re vollkommener Reinheit verwaltet. Die Frage, wem Drohungen und Forderungen auf der menschlichen Ebene nĂŒtzen, muss daher gestellt werden. Im Falle der Leviticus-Reinheitsbestimmungen sind die Leiter der frĂŒhjĂŒdischen Gemeinde zu nominieren. Obwohl im Buch Leviticus stĂ€ndig die Priester agieren, dĂŒrfen sie nicht allein als die MachttrĂ€ger identifiziert werden.

 

4   Zusammenschau (unter Einschluss von Marginaltexten)

Welcher Befund ergibt sich aus den alttestamentlichen Texten hinsichtlich der Wertung homosexueller Akte im alten Israel?

4.1 Die HomosexualitĂ€t ist in jeder Hinsicht ein Randthema der alttestamentlichen GesamtĂŒberlieferung. Sie taucht in Rechts- und Weisheitstexten, der kultischen und sonstigen festlichen (Hohelied!) Poesie ĂŒberhaupt nicht auf und wird an den wenigen Stellen des Leviticus-Buches neben anderen sexuellen Reinheitsvorschriften genannt aber nicht eigenstĂ€ndig thematisiert oder reflektiert. HeterosexualitĂ€t gilt ĂŒberall als das Normale, offensichtlich weil die Prokreation fĂŒr die Familien und Sippen lebenswichtig war, man vergleiche die Bedeutung der Sohnesverheißung in den Erzelterngeschichten der Genesis. Aber die wenigen Hinweise auf homosexuelle Praktiken beweisen doch, dass das PhĂ€nomen bekannt war. MĂ€nnliche HomosexualitĂ€t wurde sicher durch reine MĂ€nnergemeinschaften gefördert, wie sie vor allem die kĂ€mpfende Truppe darstellt (vgl. 1 Sam 22,2; 2 Sam 11,8–11; 23,8–39 u. ö.). MĂ€nnerfreundschaften im weiten Sinn und Wohngemeinschaften waren aber auch im Zivilleben möglich, vgl. David und Jonathan (1 Sam 18–20; 2 Sam 1,19–27) oder die Prophetengemeinschaften in 2 Kön 4,38; 6,1f; 1 Sam 10,5.10, vielleicht auch die Weisen, die sich in Akademierunden trafen (vgl. Ps 49: P. Casetti; Hi 3–37).

4.2 Von der Tatsache dieser mehr oder weniger fest gefĂŒgten MĂ€nnergesellschaften und der inneren Evidenz der Schöpfungsberichte her ist die oft vertretene Behauptung auszuschließen, das Alte Testament gestatte ausschließlich heterosexuelle, familiĂ€re Organisationsformen (natĂŒrlich in Gestalt der Großfamilie und unter Zulassung der Mehrehe fĂŒr den Mann) und verbiete implizit jede andere Form von Lebensgemeinschaft. Eine derartig dogmatisierte Schöpfungsordnung ist das Produkt von Theologen. Sowohl Gen 1,26–28, wie Gen 2,18–25 reden von der vorwiegend geĂŒbten Geschlechtergemeinschaft, die zur Bildung einer Familie und zur Fortpflanzung notwendig ist. Andere mögliche enge, zeitlich begrenzte oder dauerhafte Lebensgemeinschaften kommen nicht in den Blick. Der Frauenhaushalt im Buch Rut und die allein erziehenden Witwen in 1 Kön 17,7–16; 2 Kön 8,1–6 finden jedenfalls außer den Kriegs- und Prophetengruppen ungeteilte Zustimmung bei ErzĂ€hlern und Hörerschaft.

4.3 Einige, wenige ErzĂ€hlungen im Alten Testament (Gen 19 und Ri 19) lassen erkennen, dass zumindest zeitweise und in gewissen Regionen und Kreisen eine starke Aversion gegen gewaltsame homosexuelle AktivitĂ€ten herrschte. Die Entehrung der GĂ€ste wird auf die Spitze getrieben durch ihre sexuelle SchĂ€ndung durch MĂ€nner. Wir mögen darin ein Indiz sehen, dass homosexuelle MinoritĂ€ten in den betreffenden Überlieferungen mit Misstrauen und Angst betrachtet wurden. Aber das ist schon eine gewagte Interpretation. Die mittelassyrischen Rechtstafeln sehen sexuelle Misshandlung eines StraftĂ€ters zur VerstĂ€rkung seiner Strafe vor, ohne dass anscheinend den Vollstreckern des Urteils ein Makel angelastet wird. Vor allem aber dĂŒrfen wir die Sodom- und Gibea-Verbrechen nicht als grundsĂ€tzliches Votum gegen homosexuelle Handlungen vereinnahmen, so wenig wie andere Vergewaltigungsgeschichten (vgl. 2 Sam 13) heterosexuelle Beziehungen verunmöglichen wollen. Angst und Abscheu homosexueller Gewalt dagegen lĂ€sst sich zweifelsfrei in Gen 19 und Ri 19 konstatieren, und es bleibt uns darĂŒber zu spekulieren, wie weit in den verschiedenen Zeiten, Kulturen und Gesellschaftsschichten Menschen mit homosexuellen Neigungen ausgegrenzt, geduldet oder integriert worden sind.

4.4 Bei der Ă€ußersten Kargheit des Quellenmaterials ist es schier unmöglich, gezielte Fragen ĂŒber die Bewertung der HomosexualitĂ€t durch die viel hundertjĂ€hrige Geschichte Israels hindurch an die Bibel zu stellen. Außerdem hat sich der Ort unseres Fragens im Fortgang der Menschheitsgeschichte verĂ€ndert. Wir sehen nicht nur auf eine mehr als zweitausendjĂ€hrige Leidensgeschichte homosexueller Menschen zurĂŒck (vgl. J. Boswell), sondern sind durch Beobachtungen und Selbstzeugnisse mit einem detaillierten Wissen ĂŒber homosexuelle, dauerhafte Orientierung und zeitweise Neigungen bei einer Minderheit von 4 bis 6% der Bevölkerung ausgestattet. Ferner wissen wir von tausenden von Menschen, dass sie dauerhafte homosexuelle Lebensgemeinschaften, denen niemand das Attribut der hingebungsvollen, am Anderen ausgerichteten Liebesbeziehung absprechen kann, suchen und aufrechterhalten. Kein einziger biblischer Text betrachtet HomosexualitĂ€t unter diesem Gesichtspunkt, weil die homophile PrĂ€gung damals nicht erkannt war. Andere Minderheiten aber â€“ Arme, Waisen, Witwen, Fremde, Tagelöhner â€“ werden im Alten Testament sehr wohl als Randgruppen erkannt und mit SolidaritĂ€t bedacht. Also werden wir in Analogie zu ihnen auch die Frage der homosexuellen Minderheit an das Alte Testament herantragen können.

4.5 Die harte Verwerfung homosexueller Handlungen in Lev 18 und 20 ist – so sahen wir bereits – eine zeit- und strukturbedingte Maßnahme, die gleichzeitig eine Reihe von anderen sexuellen Verhaltensweisen betrifft. Der Gedanke der Verunreinigung der göttlichen HeiligkeitssphĂ€re, die in Israel dinghaft anwesend ist, steht im Hintergrund. In predigtartiger Ermahnung an die Gemeinde wird die Angst vor Beschmutzung und EntwĂŒrdigung der Heilszone mit der Todesdrohung ĂŒberhöht. Die Welt war nach Vorstellung der damaligen Überlieferer geteilt in einen Bereich substantieller Reinheit und die Zonen der Unreinheit. BerĂŒhrungen mit dem Unreinen brachte Unheil und Tod. SexualitĂ€t war in sich und von alters her ein Bereich unheimlicher KrĂ€fte. Das Blut der Menstruierenden war gefĂ€hrlich. Diese Distanz und Scheu vor der weiblichen SexualitĂ€t entstand bei MĂ€nnern. Aber sie hatten in der nachexilischen Gemeinde alle Kult- und Glaubensfragen in der Hand (vgl. E.S. Gerstenberger, Jahwe). Die Vorsichtsmaßnahmen gegen sexuelles Fehlverhalten sind darum als reine MĂ€nnertheologie verstĂ€ndlich. Das gilt auch fĂŒr die Beurteilung der mĂ€nnlichen HomosexualitĂ€t, die weibliche ist den verantwortlichen Tradenten der Leviticus- Texte entweder nicht bekannt oder fĂŒr sie uninteressant. Wenn aber die heterosexuelle Liebe schon katastrophale Folgen haben, d. h. „verunreinigen” kann, dann sind mĂ€nnliche homophile Handlungen noch unheilstrĂ€chtiger. Sie – so mögen wir rationalisieren – bringen den mĂ€nnlichen Samen an einen falschen Ort; sie sind mit einer SchĂ€ndung des „Opfers” verbunden; sie tragen nicht zum Erhalt der Genealogie bei; sie fordern den Zorn Gottes heraus; sie zerstören am Ende die Gemeinde: dies und viel mehr mag in der Vorstellung von der Verletzung und Verunreinigung göttlicher Heiligkeit mitschwingen. Mit Sicherheit ist der Angriff auf das Heilige das zentrale Motiv der besagten beiden Verdammungen.

 

5   Auf der Suche nach Kriterien

Ein verantwortliches Hören auf die Botschaft der Bibel setzt voraus, dass die alten Texte in ihrem ursprĂŒnglichen Kontext verstanden, ihr damaliges Anliegen mit vergleichbaren Bestrebungen heute in Beziehung gebracht und die fĂŒr unsere Zeit gottgewollten Entscheidungen getroffen werden. Welches können Leitlinien fĂŒr dieses verantwortliche GesprĂ€ch mit den Schriften in Sachen HomosexualitĂ€t sein?

5.1 Wir mĂŒssen die Frage nach der Scheidung der SphĂ€ren klĂ€ren, die fĂŒr die alten Überlieferer grundlegend war und in den Leviticus-Texten zur Ausgrenzung von Homosexuellen fĂŒhrt. Wie ist die Teilung der Welt und „rein” und „unrein” ĂŒberhaupt mit dem (priesterlichen!) Schöpfungsbericht in Einklang zu bringen? MĂŒssen wir nicht gerade an der Einheit der Schöpfung vom Menschen bis zum GewĂŒrm festhalten?

5.2 Wie ist grundsÀtzlich die menschliche SexualitÀt zu bewerten? Ist sie eine dÀmonische Kraft, dem göttlichen Bereich entgegengesetzt, oder eine gute Gabe Gottes, die in allen menschlichen Beziehungen, welche auf gegenseitiger Achtung und Liebe beruhen, nur positiv gewertet werden darf?

5.3 Woher drohen heute GefĂ€hrdungen fĂŒr die eine Welt, in der Mensch und andere Kreatur nur gemeinsam ĂŒberleben oder untergehen können? Sind unsere tödlichen „Verunreinigungen” der Heiligkeit Gottes nicht eher chemischer als sexueller Natur?

5.4 MĂŒssen wir nicht im Sinne des biblischen Gesamtzeugnisses darauf bestehen, dass mitmenschlichen Beziehungen nicht a priori ein Stempel des Widergöttlichen aufgeprĂ€gt wird? Welchen Stellenwert haben in der Debatte um die HomosexualitĂ€t geschichtliche Erfahrungen, neuzeitliche Erkenntnisse und das Zeugnis der Schwulen und Lesben selbst?

5.5 Die Gesellschaftsstrukturen verĂ€ndern sich heute, niemand weiß, wohin sie sich entwickeln. Neue Formen des Zusammenlebens werden – auch unter dem Druck der industriellen und postmodernen Lebensweisen – erprobt. Die Autonomie des Menschen macht seine WĂŒrde aus. SexualitĂ€t gehört zur eigensten Persönlichkeitsstruktur. Der Fortpflanzungszwang der Antike besteht nicht mehr. Sollten friedliche und der Liebe Raum gebende Formen der SexualitĂ€t nicht ausschließlich in den Bereich der persönlichen und zwischenmenschlichen Verantwortung gehören?

 

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