Ein Beitrag zur aktuellen Debatte

Von Michael Brinkschröder

(08.09.2018) Am 5. September hat der Weihbischof von Chur, Marian Eleganti, schwule Priester fĂŒr den ĂŒberwiegenden Teil der sexuellen MissbrauchsfĂ€lle in der Kirche verantwortlich gemacht.[1] Die Bischöfe von Basel und St. Gallen haben ihm bei dieser Diagnose allerdings widersprochen.[2] Vorher hat schon der ehemalige Nuntius in den USA, Carlo Maria ViganĂČ, verschiedene homosexuelle Netzwerke in der Kirche dafĂŒr angegriffen, dass sie ihrer Verantwortung zur AufklĂ€rung, vor allem im Fall des als Kardinal suspendierten Theodore McCarrick, nicht nachgekommen seien. Auch andere Bischöfe, vor allem aus den USA, haben diese Position vertreten, wĂ€hrend andere ihnen widersprochen haben.[3] Es gibt also einen veritablen Streit darĂŒber, wie der massenhafte sexuelle Missbrauch in der katholischen Kirche in den letzten Jahrzehnten mit der homosexuellen Orientierung von Priestern zusammenhĂ€ngt. Diese Kontroverse wird nicht zum ersten Mal gefĂŒhrt, denn schon 2010 hatte Kardinal Bertone im Zusammenhang mit der Aufdeckung zahlreicher MissbrauchsfĂ€lle in der katholischen Kirche Deutschlands diese Behauptung aufgestellt und war dafĂŒr von vielen Experten massiv kritisiert worden.[4] Der Verweis auf HomosexualitĂ€t als Ursache ist nicht die einzige ErklĂ€rung, sondern steht in der aktuellen Diskussion neben drei anderen Alternativen.

  1. Nach wie vor wird hĂ€ufig gesagt, dass es sich bei den TĂ€tern um PĂ€dophile (oder Ephebophile) handelt. Studien aus Deutschland und anderen LĂ€ndern haben jedoch gezeigt (s.u.), dass nur eine Minderheit unter den TĂ€ter tatsĂ€chlich eine psycho-sexuelle Struktur besaß, die man insofern als pĂ€dophil bezeichnen kann, dass kindliche Körperschemata bei ihnen sexuelles Begehren auslösen.
  2. Die derzeit gĂ€ngigste ErklĂ€rung verweist darauf, dass die TĂ€ter nicht ĂŒber die notwendige psycho-sexuelle Reife verfĂŒgten. Diese These wird von Psychologen und Therapeuten vertreten (z.B. in Deutschland von Wunibald MĂŒller).[5] Geht man von dieser These aus, muss man sich die Frage stellen, warum es so viele offenkundig psycho-sexuell unreife Kleriker gibt. Liegt es an einer bestimmten Selektion von Kandidaten? An mangelnder Thematisierung von SexualitĂ€t in der Ausbildung? Oder am Zölibat, der eine ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen SexualitĂ€t zur Bedrohung fĂŒr die Berufsentscheidung machen kann? Man könnte sich auch die Frage stellen, ob bei homosexuellen Priestern die psycho-sexuelle Entwicklung durch das doppelte Problem von Zölibatspflicht und verbotener HomosexualitĂ€t in besonders intensiver Weise blockiert wird.
  3. Eine weitere Ursache wird im Klerikalismus verortet, d.h. einer Machtstellung und einem dementsprechenden Statusbewusstsein, die aus der Zugehörigkeit zum Klerus abgeleitet werden. Diese ErklĂ€rung vertritt zu allererst Papst Franziskus. Sie argumentiert nicht auf der psycho-sexuellen Ebene, sondern auf der Ebene der kirchlichen Machtstrukturen. Sie bleibt aber an der OberflĂ€che, denn prĂ€zisere Beschreibungen darĂŒber, woraus sich diese klerikale Macht speist, fehlen. Mindestens wĂ€re hier genauer unter die Lupe zu nehmen, was Michel Foucault als Pastoralmacht, als Disziplinarmacht und als Macht ĂŒber die „Ordnung des Diskurses“ beschrieben bzw. als Sakramentarmacht lediglich benannt hat.[6] Die Kritik des Klerikalismus kann nur dann wirksam werden, wenn der soziologische Werkzeugkasten ausgepackt wird.

1. Sexueller Missbrauch von MinderjÀhrigen in Zahlen

Welche empirischen Befunde sprechen nun fĂŒr oder gegen diese Thesen? Die Deutsche Bischofskonferenz hat ein interdisziplinĂ€res Forschungsteam um den Psychiater Harald Dreßing damit beauftragt, die vorhandenen Akten der deutschen Diözesen zu untersuchen, um Informationen ĂŒber den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche zu liefern. Die Ergebnisse sollen bei der diesjĂ€hrigen Herbstvollversammlung der DBK veröffentlicht werden. In einer 2017 veröffentlichten Review hat das Forscher_innenteam die existierende Literatur zu empirischer Forschung von 1990 bis 2015 zusammengetragen.[7] Es handelt sich um 40 Studien aus 9 LĂ€ndern, darunter 16 Studien zu sexuellem Missbrauch von MinderjĂ€hrigen in der katholischen Kirche in Deutschland. Sie haben dabei auch Studien ĂŒber nicht-katholische Institutionen zum Vergleich herangezogen, obwohl deren Anzahl und QualitĂ€t deutlich geringer ist. Die wichtigsten Ergebnisse sind:

  1. 4% aller Priester haben sexuellen Missbrauch von MinderjÀhrigen begangen.
  2. Von den 15.849 Opfern waren 12.462 mÀnnlich (78,6%) und 3.387 (21,4%) weiblich. In nicht-katholischen Institutionen waren von den 728 Opfern 328 (45,1%) mÀnnlich und 400 (54,9%) weiblich. Der Anteil der mÀnnlichen Opfer ist in der kath. Kirche somit im Vergleich dieser Studien bedeutend höher als in anderen Institutionen.
  3. Das Durchschnittsalter der Opfer liegt in der kath. Kirche bei 12,0 Jahren, in nicht-katholischen Einrichtungen bei 6,6 Jahren.
  4. Die hÀufigsten psychologischen Merkmale der TÀter sind

- emotionale / sexuelle Unreife (29,6% von 328 in den Studien untersuchten FĂ€llen).

- Persönlichkeitsstörung (21,6%)

- Anzeichen von PĂ€dophilie (17,7%)

- Alkoholmissbrauch (13,1)

- VerhaltensauffĂ€lligkeiten als Jugendliche (9,8%) (vgl. ebd. S. 48−50)

  1. „Nur zwei Studien ĂŒber die katholische Kirche haben die sexuelle Orientierung (ohne Paraphilien) der TĂ€ter erforscht. Von den 89 untersuchten Angreifern berichteten 53,9% eine heterosexuelle Orientierung, 34,9% berichteten eine homosexuelle Orientierung und 6,7% berichteten eine bisexuelle Orientierung.“ (S. 48; die Prozentangaben sind, genau genommen, Hochrechnungen, da 89 geringer ist als hundert)
  2. 5,3% der TĂ€ter waren selber Opfer von sexuellem Missbrauch.
  3. 55,1% der TĂ€ter haben ein einziges Kind missbraucht. Die anderen 44,9% haben im Durchschnitt 5,4 Kinder missbraucht.

Über die institutionellen Ursachen, die in der katholischen Kirche die hohe Zahl von sexuellem Missbrauch begĂŒnstigt haben, stellt die Studie lediglich Vermutungen auf.

  1. Rigide sexuelle Moral, die dem Begehren entgegensteht, könnte zu einem Tabu von Körperlichkeit und SexualitĂ€t fĂŒhren, was sexuellen Missbrauch begĂŒnstigen könnte.
  2. Wegen der schwindenden Zahl nachkommender Seminaristen, könnte das Auswahlverfahren es an der nötigen GrĂŒndlichkeit mangeln lassen.
  3. Das Defizit, Bewusstsein im Hinblick auf sexuellen Missbrauch zu wecken, könnte bestehende Strukturen des Missbrauchs stÀrken und dazu beitragen, dass bestehender Missbrauch vertuscht werden kann.
  4. Diese Dynamik könnte durch den Mangel an Anlaufstellen fĂŒr Opfer in der Kirche verstĂ€rkt werden.
  5. Der Mangel an Kursen, in denen der Klerus sowohl ĂŒber seine eigene SexualitĂ€t als auch ĂŒber angemessenes Verhalten gegenĂŒber pubertierenden Heranwachsenden unterwiesen wird, könnte zum Missbrauchsverhalten beitragen. (S. 50f.)

Die Literaturstudie von Dressing et al. diskutiert auch die Ursachen fĂŒr den auffallenden Befund, dass es in der katholischen Kirche deutlich mehr mĂ€nnliche Opfer gibt und dass diese durchschnittlich Ă€lter sind als in anderen Institutionen.

  1. Eine erste ErklÀrung liegt darin, dass sexueller Missbrauch in hohem Grade eine Frage der Gelegenheit ist. Da Priester traditionell deutlich hÀufiger Umgang mit Jungen hatten als mit MÀdchen, haben sich entsprechend auch mehr Gelegenheiten zum sexuellen Missbrauch von Jungen ergeben.
  2. Da HomosexualitĂ€t in der katholischen Kirche von vielen als eine moralische Übertretung betrachtet wird, könnte es sein, dass solche Vergehen in ĂŒberdurchschnittlicher Weise berichtet werden.
  3. Verschiedene Studien belegen, dass die Zahl der Homosexuellen unter Priestern deutlich höher ist als in der Gesamtbevölkerung. Die Forschungsliteratur besagt, dass die sexuelle Orientierung in der allgemeinen Bevölkerung nicht zu sexuellem Missbrauch fĂŒhrt. „Es könnte jedoch sein, dass religiöse Prinzipien und Werte mit intimen BedĂŒrfnissen und WĂŒnschen in Konflikt stehen. Sexueller Missbrauch könnte deshalb eine Strategie von unreifen homosexuellen katholischen Priestern sein, um konfligierende IdentitĂ€ten miteinander zu versöhnen.“ (S. 52)

2. Der „Elefant in der Sakristei“ und die systemische Unehrlichkeit des Klerus

Der schwule Theologie James Alison hat in der englischen Zeitschrift The Tablet zwei Artikel ĂŒber den klerikalen Wandschrank (the clerical closet) geschrieben.[8] Er geht davon aus, dass es nicht mehr möglich ist, den „Elefanten in der Sakristei“ (R. Mickens) zu ĂŒbersehen, nĂ€mlich die Existenz von Priestern mit einer homosexuellen Orientierung. Nach Alison ist die damit verbundene Unehrlichkeit aller Beteiligten ein systemisches Problem der Kirche. Da sie die homosexuellen Priester systematisch ignoriert und verschwiegen hat, war sie auch nicht in der Lage, die benachbarte Grauzone des sexuellen Missbrauchs von MinderjĂ€hrigen auszuleuchten. Zur homosexuellen Kultur innerhalb des Klerus gehört es nach Alison auch, dass homosexuelle Handlungen mit Seminaristen als „normal“ betrachtet, verschwiegen und daher nicht zur Anzeige gebracht wurden, da die Seminaristen erwachsen waren, obwohl man dies als sexuellen Missbrauch von AbhĂ€ngigen hĂ€tte denunzieren mĂŒssen. Daher sei auch im Fall von Theodore McCarrick erst dann etwas geschehen, als seine sexuellen Beziehungen mit MinderjĂ€hrigen bekannt geworden seien, wĂ€hrend niemand gegen seine sexuellen Beziehungen mit Seminaristen vorgegangen sei.

Alison nennt vier systemische Merkmale des „clerical closet“:

  1. „Ein weit, weit grĂ¶ĂŸerer Anteil des Klerus, insbesondere des Ă€lteren Klerus, als irgendjemandem, sogar den Bischöfen und KardinĂ€len selbst, zu verstehen erlaubt wurde, ist gay.“[9] Bereits Mark Jordan hatte von der Honigwabenstruktur des „clerical closet“ gesprochen, die niemand zu ĂŒberblicken vermag. Zu diesem Unwissen habe, so Alison, nicht zuletzt die konstante Weigerung der Bischöfe beigetragen, solide soziologische Studien ĂŒber den Klerus anfertigen zu lassen. Erst jetzt, wo sich die Implosion des klerikalen Schranks beschleunige, werde das Ausmaß mehr und mehr sichtbar.
  2. Eine zweite Regel sei, dass die HeterosexualitĂ€t umgekehrt proportional sei zur Schrillheit der Homophobie eines Klerikers. „Die hauptsĂ€chlichen klerikalen KreuzzĂŒgler in dieser Arena stellen sich selbst als gay heraus − in einigen FĂ€llen so tief in der Verleugnung (ihrer sexuellen Orientierung), dass sie nicht darum wissen.“ Die wenigen heterosexuellen MĂ€nner im Klerus hĂ€tten laut Alison dagegen in der Regel kein Problem mit schwulen MĂ€nnern. Unter den homosexuell orientierten Priester gebe es solche, die ihre psychische Konfusion nach außen projizieren und andere, die sich mit Begeisterung fĂŒr die Beachtung der katholischen „Hausregeln“ einsetzen, weil sie sich davon Karrierechancen versprechen.
  3. Die dritte systemische Eigenschaft besteht darin, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit zu verbieten. Alison vertritt die Ansicht, dass der Ausschluss von homosexuell orientierten MĂ€nnern aus dem Priesterseminar niemals funktioniert. „In der Praxis bedeutet der Ausschluss, dass diejenigen die von der Ehrlichkeit ‚versucht‘ sind, aussortiert werden oder sich selbst aussortieren, weil sie sich mit den Anreizen zu einem Doppelleben nicht wohlfĂŒhlen.“ Das Verbot, Homosexuelle zu Priestern zu weihen, hĂ€tte somit lediglich den Effekt, dass die Zyniker, die bereit seien, ein Doppelleben zu fĂŒhren, ĂŒbrig blieben. Damit sei aber auch eine Ursache fĂŒr den sexuellen Missbrauch verbunden, denn Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit seien zentrale Voraussetzungen fĂŒr jede Art von psycho-sexueller Reife. Wer trotzdem als homosexuell Orientierter den Weg zum Priestertum gehe (unter UmstĂ€nden mit der Erlaubnis eines weisen Bischofs), laufe danach Gefahr, als zu „liberal“ angegriffen zu werden.
  4. Ebenso wenig hilfreich wie das Verbot der Weihe von homosexuellen Priestern sei die Rhetorik des Kulturkampfes, die die Schuld am klerikalen Versteckspiel einseitig bestimmten zeitgeschichtlichen Strömungen, wie etwa „den ’68-ern“ oder „den Liberalen“ oder „dem II. Vatikanischen Konzil“, zuweise.

3. Eine Typologie homosexuell orientierter Priester

Eleganti, ViganĂČ und andere Bischöfe fordern, dass Homosexuelle nicht mehr zu Priestern geweiht werden dĂŒrfen. Abgesehen davon, dass es diese Regel schon seit ein paar Jahren gibt und in der Regel keine Beachtung findet, unterlĂ€sst diese Forderung auch die dringend notwendige Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen von Priestern mit einer homosexuellen Orientierung. Daher möchte ich es mal mit einer kleinen Typologie versuchen.

  1. ZunĂ€chst gibt es diejenigen, die ihre sexuelle Orientierung vollstĂ€ndig verdrĂ€ngen oder von sich abspalten. Sie können nicht akzeptieren, wer sie „sind“. Zwei Untergruppen kann man unterscheiden:
    a) Wenn sie Sex mit MĂ€nnern haben, dann verleugnen sie das anschließend und neigen verstĂ€rkt zu paranoiden Projekten.[10]
    b) Andere sublimieren ihre SexualitĂ€t vollstĂ€ndig, leben zölibatĂ€r und sind eher homophil als praktizierend homosexuell. Sie zeichnen sich vor allem durch einen ausgeprĂ€gten Ästhetizismus aus („Liturgy-Queens“), dessen stark homoerotischer Touch nur schwer zu ĂŒbersehen ist.
  2. Die zweite Gruppe kann man als zynische Homosexuelle bezeichnen. Sie sind sich ihrer sexuellen Orientierung sehr bewusst und leben sie auch mehr oder weniger heimlich, umgeben von einem „offenen Geheimnis“. Sie wĂŒrden sich aber niemals öffentlich durch ein Coming-out dazu bekennen, da das ihr Standing in der Hierarchie in Gefahr bringen wĂŒrde. Sie haben gelernt, wie sie mit dem Doppelleben zurechtkommen, das sie zu fĂŒhren bereit sind, um Macht und Karriere zu erlangen. Infolgedessen unterdrĂŒcken sie auch alle Bestrebungen zur Emanzipation von Schwulen in der Kirche und verteidigen mit Vehemenz die moralische Verurteilung von HomosexualitĂ€t − wissend, dass sie damit eigentlich auch sich selbst verurteilen, was sie aber zynischerweise ausblenden. Wenn sie etwas ĂŒber das Sexleben von anderen Priestern / Bischöfen etc. wissen, nutzen sie das zu ihrem Vorteil aus, aber diskret hinter den Kulissen, ohne einen öffentlichen Skandal zu produzieren, der dem Ansehen der Kirche schaden wĂŒrde.[11]
  3. Ein dritter Typ sind die „schwulen Priester“, die sich zu Selbsthilfegruppen zusammenfinden und dabei eine positiv bewertete, schwule IdentitĂ€t entwickeln. Zu ihrem kirchlichen Projekt gehört die Akzeptanz von Schwulen und Lesben, wodurch sie sich grundlegend von den Zynikern im Amt unterscheiden. Auch bei den schwulen Priestern kann man unterscheiden, wie sie ihre SexualitĂ€t bzw. ihr Zölibatsversprechen leben:

    a) Manche von den schwulen Priestern leben in festen Beziehungen,
    b) andere bevorzugen anonyme und flĂŒchtige sexuelle Beziehungen,
    c) wieder andere leben ganz oder zumindest ĂŒber lĂ€ngere Lebensphasen hinweg zölibatĂ€r.

    Weil die ersten beiden Gruppen darunter in Widerspruch zu ihrem Zölibatsversprechen leben, sind sie vom Gesichtspunkt der moralischen IntegritĂ€t (insbesondere der Aufrichtigkeit) her natĂŒrlich angreifbar. Etliche von ihnen haben daher in den letzten Jahren das Priestertum an den Nagel gehĂ€ngt, um sich ehrlich zu machen. Andere leiden eher an ihrer widersprĂŒchlichen Situation, in die sie durch den zwangsweisen Zölibat geraten sind, ohne einen Ausweg zu finden. Sie bekĂ€mpfen daher im aktuellen Konflikt primĂ€r den Zölibat.

Was hat diese Typologie mit dem Thema Missbrauch und dessen Aufarbeitung zu tun?

  1. Bei denjenigen, die ihre homosexuelle Orientierung verleugnen oder verdrĂ€ngen, kann man sicher nicht von sexueller Reife sprechen. In vielen FĂ€llen dĂŒrften sie in einer Zeit oder unter UmstĂ€nden sozialisiert worden sein, in denen homosexuelle Handlungen strafbar waren. In jedem Fall stellen sie in meinen Augen ein großes Risiko dafĂŒr dar, dass es bei ihnen zu Formen von sexuellem Missbrauch kommen kann. In ihrer Moraltheologie orientieren sie sich an der Tradition, die sie selbst geprĂ€gt hat, d.h. an dem Verbot und der Ächtung von HomosexualitĂ€t, um sich emanzipierte Schwule möglichst vom Leib zu halten, da sie die Struktur der Verleugnung ihrer homosexuellen Begierden gefĂ€hrden wĂŒrden. Sie neigen daher auch zu paranoiden Projektionen Ă  la Kardinal Sarah.

FĂŒr diese Diagnose sprechen Befunde aus Australien und den USA, dass die Missbraucher zu einem ĂŒbergroßen Anteil aus JahrgĂ€ngen stammen, die vor der Schwulenbewegung geweiht wurden.[12] Diese Ă€lteren JahrgĂ€nge hatten noch keinen Zugang zu einem positiv bewerteten, nicht pathologischen VerstĂ€ndnis ihrer HomosexualitĂ€t, sondern waren von einem sehr weitreichenden Tabu umgeben, was ihre Hilflosigkeit im Umgang mit sich selbst nur vergrĂ¶ĂŸert haben kann.

  1. Die zynischen Homosexuellen sind wohl eher diejenigen, die die Verantwortung dafĂŒr tragen, dass die Straftaten von anderen Klerikern vertuscht werden. Sie sind die Virtuosen der Macht der Kirche, deren Machenschaften und scheinbaren Reformen jetzt immer mehr ans Licht kommen, weil deutlich wird, dass die frommen Beteuerungen zur Besserung seit Boston 2001 nur hohles GeschwĂ€tz waren, um die Opfer und die GlĂ€ubigen zu blenden. Sie sind z.B. jederzeit bereit, Schweigegeld zu zahlen und Straftaten zu vertuschen. Sie sind die typischen Kunden von Call-Boys wie der Skandal in Neapel sichtbar gemacht hat.[13]
  2. Die "schwulen Priester" dĂŒrften am wenigsten mit sexuellem Missbrauch zu tun haben, da sie sich aktiv um ihre psycho-sexuelle IdentitĂ€t und IntegritĂ€t bemĂŒhen. Sie leiden an der Homophobie der Kirche, die maßgeblich von den Verleugnern (Typ 1) und den Zynikern (Typ 2) aufrechterhalten wird.

4. Kampf der homosexuellen Netzwerke im Vatikan

Was wir derzeit in der Kirche erleben, ist am besten verstĂ€ndlich als Machtkampf zwischen verschiedenen homosexuellen Kleriker-Netzwerken im Vatikan.[14] Durch die MissbrauchsfĂ€lle stehen sie seit lĂ€ngerem unter starkem Druck, und der Bericht aus Pennsylvania hat die Lage jetzt noch einmal zugespitzt. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die das bisherige Regime des Verstecks im Sakristeiwandschrank verteidigen wollen. „Die gleiche Lehre ist funktional fĂŒr diejenigen, die extrem ungesund sind (und erneut die ZurĂŒckweisung zu akzeptieren, wer sie sind, erzwingen wollen), wie fĂŒr opportunistische Karrieristen, da es letztere in die Lage versetzt, die lautstĂ€rksten VerbĂŒndeten der genuin frommen, aber eingeschĂŒchterten Ă€lteren ZölibatĂ€re bei der Aufrechterhaltung des Anscheins der alten Welt zu werden.“ (J. Alison)

Diese beiden Gruppen (und Typen von homosexuell orientierten Klerikern) greifen jetzt diejenigen an, die wie Papst Franziskus sanft und behutsam die TĂŒren des Sakristeischranks öffnen wollen. Einen Einblick in den hier tobenden Machtkampf bietet das Dokument, das der ehemalige Nuntius und Kurienmitarbeiter Erzbischof Carlo Maria ViganĂČ veröffentlicht hat.[15] Das ViganĂČ-Dokument könnte jetzt die Lunte sein, die das Pulverfass zur Explosion bringt, denn sein Verfasser greift nicht nur die Homosexuellen im Klerus ingesamt an und outet einige, sondern er greift auch die Zyniker der Macht im Vatikan an. ViganĂČ nennt zahlreiche Namen von KardinĂ€len und Bischöfen, die er beschuldigt, selber homosexuell zu sein und/oder sexuellen Missbrauch vertuscht zu haben.

Seit der Veröffentlichung des Dokuments ist deutlich geworden, dass ViganĂČ selber in seiner Funktion als Nuntius in den USA an der Vertuschung von sexuellem Missbrauch nicht ganz unbeteiligt gewesen ist und mindestens in einem Fall eine unabhĂ€ngige Untersuchung unterbinden wollte.[16] Ebenso unglaubwĂŒrdig ist seine Behauptung, dass der damalige Kardinal Theodore McCarrick bereits von Papst Benedikt quasi suspendiert worden sei, da dies offensichtlich danach keine praktischen Auswirkungen hatte. Zudem scheint er davon besessen zu sein, fĂŒr den sexuellen Missbrauch durch Kleriker ausschließlich die homosexuellen Priester verantwortlich zu machen, so dass er nicht davor zurĂŒckschreckt, auch den Papst anzugreifen, der die schwulen Priester seiner Meinung nach zu stark gefördert habe.

Vom Ă€ltesten Netzwerk, das unter Papst Johannes Paul II. auf dem Gipfel seiner Macht war und im Staatssekretariat verortet ist, nennt ViganĂČ Kardinal Angelo Sodano (Jg. 1927, StaatssekretĂ€r der römischen Kurie von 1991 bis 2006), von dem bekannt ist, dass er den des vielfachen sexuellen Missbrauchs beschuldigten GrĂŒnder der LegionĂ€re Christi, Marcial Maciel, jahrelang gedeckt hat. Zu den KardinĂ€len, die zum Netzwerk von Sodano gehörten und im Staatssekretariat in leitender Stellung tĂ€tig waren und nach Meinung von ViganĂČ seine Memos kennen mussten, die er seit 2006 ĂŒber McCarrick dorthin geschickt hatte, gehören außerdem Leonardo Sandri (Jg. 1947, von 2000−2007 Substitut fĂŒr die Allgemeinen Angelegenheiten im Staatssekretariat tĂ€tig), Fernando Filoni (Jg. 1946, von 2007−2011 dort Substitut) und Angelo Becciu (Jg. 1948, von 2011−2018 dort Substitut), Giovanni Lajolo (Jg. 1935, SekretĂ€r fĂŒr die Beziehungen mit den Staaten 2003−2006) und Dominique Mamberti (Jg. 1952, SekretĂ€r fĂŒr die Beziehungen mit den Staaten seit 2006) sowie der jetzige KardinalstaatssekretĂ€r Pietro Parolin (Jg. 1955 und StaatssekretĂ€r seit 2013). Dass es bereits im Jahr 2000 Beschwerden beim Staatssekretariat ĂŒber die sexuellen Beziehungen von McCarrick mit Seminaristen gab, wurde nun durch einen Brief von Sandri aus dem Jahr 2006 bestĂ€tigt, der darauf Bezug nimmt.[17] Eine andere Figur, die unter Papst Benedikt in SpitzenĂ€mter vorgerĂŒckt ist, ist Kardinal Tarcisio Bertone (Jg. 1934 und von 2006−2013 KardinalstaatssekretĂ€r und von 1995-2002 SekretĂ€r der Glaubenskongregation unter Ratzinger), den ViganĂČ beschuldigt, den als homosexuell bekannten Vincenzo di Mauro zum Bischof ernannt zu haben.[18]

Von Amts wegen hĂ€tten nach Ansicht von ViganĂČ auch die KardinĂ€le William Levada (Jg. 1936, PrĂ€fekt der Glaubenskongregation von 2005−2012 und dafĂŒr in der Kritik, dass er als Bischof von Portland und spĂ€ter von San Franciso sexuellen Missbrauch von Priestern vertuscht habe), Marc Ouellet (Jg. 1944 und seit 2010 PrĂ€fekt der Bischofskongregation) und Lorenzo Baldisseri (Jg. 1940, 2012−2013 SekretĂ€r der Bischofskongregation) ĂŒber die Vergehen von McCarrick informiert sein mĂŒssen, ohne jemals etwas unternommen zu haben.

Gleichzeitig attackiert ViganĂČ aber auch die lateinamerikanischen, US-amerikanischen und kurialen Netzwerke, auf die sich Papst Franziskus aktuell stĂŒtzt. Ihnen ist gemeinsam, dass sie eine wesentlich freundlichere Haltung gegenĂŒber Homosexuellen einnehmen als die Netzwerke um Sodano und Bertone. Aus den USA nennt ViganĂČ den derzeit mit massiven RĂŒcktrittsforderungen konfrontierten Nachfolger von McCarrick als Erzbischof von Washington D.C., Kardinal Donald Wuerl (Jg. 1940), aber ebenso die KardinĂ€le Kevin Farrell (Jg. 1947, seit 1966 Mitglied der LegionĂ€re Christi) und SĂ©an O’Malley (Jg. 1944).

Zum lateinamerikanischen Netzwerk gehören einerseits die chilenischen KardinĂ€len Francisco Javier ErrĂĄzuriz Ossa (Jg. 1933 und Mitglied im Kardinalsrat von Papst Franziskus) und dessen Nachfolger in Santiago Riccardo Ezzati Andrello (Jg. 1942), die gemeinsam geplant haben, wie sie die Taten des Priesters Fernando Karadima vertuschen können. Zum anderen aber auch der einflussreiche Kardinal Óscar RodrĂ­guez Maradiaga aus Honduras (Jg. 1942), ebenfalls Mitglied im Kardinalsrat, dessen Weihbischof im Juli 2018 zurĂŒcktreten musste, nachdem sich Seminaristen ĂŒber sexuelle Übergriffe beschwert hatten.[19] Laut ViganĂČ war Maradiaga der „Königsmacher“ fĂŒr Ernennungen in den USA und der Kurie und habe z.B. den Brasilianer Ilson de Jesus Montanari (Jg. 1959, seit 2013 SekretĂ€r der Bischofskongregation) unterstĂŒtzt. In den USA hĂ€tten Maradiaga zusammen mit Wuerl und McCarrick die Ernennungen von Blase Cupich in Chicago und Joseph W. Tobin in Newark sowie von McElroy in San Diego betrieben, die immer wieder durch schwulenfreundliche Positionen aufgefallen seien.

Von den Mitarbeitern der Kurie outet ViganĂČ Kardinal Francesco Coccopalmerio (Jg. 1938) und Erzbischof Vincenzo Paglia (Jg. 1945), von denen er behauptet, dass sie zu einer homosexuellen Strömung gehörten, die eine homo-freundliche Position bezogen haben. Ebenfalls homosexuell, aber mit einer konservativen Ausrichtung seien wiederum die KardinĂ€le Frederick O’Brien (Jg. 1939) und Renato Raffaele Martino (Jg. 1932).

Bei den zuletzt genannten Klerikern aus den USA und der Kurie unterstellt er eine Vertuschung von sexuellem Missbrauch nicht ausdrĂŒcklich, so dass sich die Frage stellt, warum er sie in diesem Zusammenhang ĂŒberhaupt erwĂ€hnt. Offensichtlich liegt dies an seiner Überzeugung, dass die Existenz von homosexuellen Priestern an sich schon die entscheidende Ursache von sexuellem Missbrauch darstellt. Wer also selber homosexuell veranlagt sei oder Homosexuelle in der Kirche befĂŒrworte, mĂŒsse − so seine Vorstellung − daher automatisch mitschuldig sein. Das aber ist offensichtlich ein Kurzschluss, auf den letztlich wohl auch die Angriffe ViganĂČs auf Papst Franziskus zurĂŒckzufĂŒhren sind.

Interessanter und relevanter fĂŒr die Aufarbeitung des Falls von Theodore McCarrick dĂŒrfte daher die Frage sein, wer in der Kurie und sonst wo von Amts wegen darĂŒber informiert war und es vertuscht hat. Man kann nur hoffen, dass Papst Franziskus dieser FĂ€hrte folgt und eine offizielle kirchenrechtliche Untersuchung anordnet. Ob diese KardinĂ€le und Bischöfe dann tatsĂ€chlich homosexuell sind (und welchem Typ homosexueller Kleriker sie zuzuordnen sind), muss man als eine zweitrangige Frage betrachten, auch wenn ViganĂČ nahezulegen scheint, dass es darum auch im Umfeld des Staatssekretariats und der Bischofskongregation geht.

Angesichts dessen, dass im Umfeld des Vatikans immer wieder eine „lobby gay“ perhorresziert wird oder von „homosexuellen Netzwerken“ wie bei ViganĂČ die Rede ist, sei hier schließlich auch noch einmal der Hinweis erlaubt, dass eine „lobby lay gay“, also eine Interessenvertretung von schwulen Laien (und ĂŒberhaupt von LGBTI-Personen) dabei ĂŒberhaupt nicht gemeint ist. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall, da zumindest die Verleugner und die Zyniker unter den homosexuell orientierten Priestern auf Kosten der schwulen Laien dafĂŒr kĂ€mpfen, dass die moralische Ächtung homosexueller Handlungen durch die Kirche aufrechterhalten wird.

5. Nötige Maßnahmen, um die Krise zu ĂŒberwinden

Es dĂŒrfte nach dem bisher Gesagten evident sein, dass die Forderungen von Bischöfen wie Eleganti oder ViganĂČ nach einem erneuerten Verbot der HomosexualitĂ€t – hier geht es besonders um das Verbot, homosexuell orientierte MĂ€nner zur Priesterweihe zuzulassen, und das Gebot, solche, die bereits geweiht sind, aus ihren Ämtern zu suspendieren – nicht effektiv vor weiterem Missbrauch schĂŒtzen, da sie lediglich die systemische Unehrlichkeit befördern. Was muss die Kirche also tun, um den Forderungen der Opfer nachzukommen, sexuellen Missbrauch wirksam zu verhindern und die TĂ€ter und Vertuscher zur Rechenschaft zu ziehen?

Angesichts dieser ins GrundsĂ€tzliche zielenden Kontroverse ĂŒber die TĂ€ter und diejenigen im kirchlichen Apparat, die sie beschĂŒtzt haben, scheint es mir wichtig, die praktischen Schritte nicht aus den Augen zu verlieren. Eine ganze Reihe von Maßnahmen, um angemessen auf FĂ€lle von sexuellem Missbrauch zu reagieren, wurde in deutschen Diözesen beschlossen und zum Teil auch bereits umgesetzt.

  1. Zuallererst geht es dabei um Maßnahmen zur Wiedergutmachung. Wesentlich und unverzichtbar ist dabei die Bereitschaft der Kirchenoberen, Menschen, die sexuell missbraucht worden sind, zu treffen, ihnen zuzuhören und die Schuld der kirchlichen AmtstrĂ€ger und der Kirche konkret zu bekennen und dafĂŒr um Vergebung zu bitten. Angemessene EntschĂ€digungszahlungen gehören ebenso dazu wie die Übernahme der Kosten fĂŒr Therapien.
  2. Die wissenschaftliche Aufarbeitung zurĂŒckliegender FĂ€lle ist − wenn auch holprig − in Deutschland auf den Weg gebracht worden; die Ergebnisse werden bald veröffentlicht. Auch hier bleibt jedoch das Problem, dass die Forschung nicht von staatlichen Ermittlungsbehörden oder in deren Auftrag geschehen ist, sondern von den deutschen Diözesen selbst in Auftrag gegeben worden ist. Mit Blick auf die UnabhĂ€ngigkeit der Forscher_innengruppe mĂŒssen daher ebenso Zweifel bleiben wie mit Blick auf die Frage, ob die Diözesen der Gruppe tatsĂ€chlich alle Unterlagen ausgehĂ€ndigt haben. Dass die staatlichen Untersuchungen in Australien und Pennsylvania so verheerend ausgefallen sind, könnte seine Ursache nicht zuletzt darin haben, dass dort auch die Geheimarchive der Diözesen beschlagnahmt wurden. In den USA werden viele Bundesstaaten nun dem Beispiel von Pennsylvania folgen. DarĂŒber hinaus gibt es viele LĂ€nder, in denen eine Aufarbeitung noch nicht einmal begonnen hat.

Um die Vertuschung von sexuellem Missbrauch durch Kleriker zu unterbinden, muss es verpflichtend sein, dass Bischöfe Priester und kirchliche Mitarbeiter_innen, die des sexuellen Missbrauchs beschuldigt werden, bei staatlichen Behörden anzeigen und alle relevanten Unterlagen an staatliche Untersuchungsbehörden ĂŒbergeben.

  1. Es geht darĂŒber hinaus um Maßnahmen zur PrĂ€vention wie etwa verbindliche Kurse zur Information ĂŒber richtiges Verhalten beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Das Forschungsteam um Harald Dreßing hat mittels einer Umfrage festgestellt, dass es bei der PrĂ€ventionsarbeit große Unterschiede zwischen den Diözesen gibt. In einigen Diözesen gibt es weder PrĂ€ventionsbeauftragte mit festem Stundenkontingent noch PrĂ€ventionsfachkrĂ€fte, die Schulungen durchfĂŒhren können. Auch waren zum Stichtag 31.12.2014 noch lange nicht alle Kleriker prĂ€ventionsgeschult. In neun BistĂŒmern war die PrĂ€ventionsschulung nicht in die Priesterausbildung eingebunden. Nur vier BistĂŒmer haben Betroffene bei der Mitarbeit in PrĂ€ventionskursen einbezogen.[20] Wichtig ist auch die Einrichtung unabhĂ€ngiger Beschwerdestellen ĂŒber Missbrauch in der Kirche.
  2. Auf der Ebene der Gesamtkirche (und damit in der Verantwortung des Papstes) gilt es ebenfalls noch eine ganze Reihe von kirchenrechtlichen Maßnahmen anzupacken. Dabei geht es etwa um die Änderung des Codex Iuris Canonici, in dem sexueller Missbrauch bislang lediglich als „moralische Verfehlung“ statt als Verbrechen eingestuft wird. Es wĂ€re auch geboten, die Forderung der PĂ€pstlichen Kommission fĂŒr den Schutz von MinderjĂ€hrigen endlich umzusetzen, ein (nicht mit Klerikern besetztes) Kirchengericht einzusetzen, das den Auftrag hat, FĂ€lle von Missbrauch und seiner Vertuschung durch Kleriker zu untersuchen, und die Macht, Priester und auch Bischöfe von ihren kirchlichen Ämtern zu suspendieren und staatlichen Behörden zur Strafverfolgung zu ĂŒbergeben. Papst Franziskus hatte dies 2015 zunĂ€chst zugesagt, aber die Umsetzung ist bis heute aus schleierhaften GrĂŒnden nicht erfolgt.[21]
  3. In Australien hat die Royal Commission zur AufklĂ€rung von Kindesmissbrauch darĂŒber hinaus auch empfohlen, dass die Kirche den Pflichtzölibat und das Beichtgeheimnis abschafft. WĂ€hrend die australische Bischofskonferenz am Beichtgeheimnis festhalten will, hat sie sich die Forderung zur Beendigung des Pflichtzölibats zu eigen gemacht und eine entsprechende Forderung nach Rom geschickt.[22]

 

Damit sind wir bei einem fĂŒr die Struktur der katholischen Kirche grundlegenden Thema angelangt. Die Abschaffung der Zölibatspflicht stellt praktisch die systemische Alternative dar zum Verbot, Homosexuelle zur Priesterweihe zuzulassen. Denn wenn auch (heterosexuell) verheiratete MĂ€nner zum Priester geweiht werden, dann wĂŒrde sich das Gewicht der homophob-homosexuellen Netzwerke im Klerus, die momentan den Vatikan dominieren, sicherlich mit der Zeit schwinden. Stattdessen könnte eine neue Kultur entstehen, die nicht derartig um die Frage der HomosexualitĂ€t kreist, wie dies bislang der Fall ist. Verbinden sollte man diesen Schritt mit der Öffnung (mindestens) des Diakonats fĂŒr Frauen, da auch durch ihre Existenz die Kultur des Klerikalismus ĂŒberwunden werden könnte.

Aber auch diese beiden Maßnahmen alleine wĂŒrden den Druck nicht mindern, unter dem Kleriker mit homosexueller Orientierung stehen. Solange ihnen nicht erlaubt wird, homosexuelle Beziehungen zu leben, wird auch ihre psycho-sexuelle Reife nicht befördert, sondern verhindert. Es wĂ€re also auch im Rahmen der langfristigen Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch nur konsequent, wenn die kirchliche Akzeptanz von homosexuellen Beziehungen weiter vorangetrieben wird.

Dr. Michael Brinkschröder ist kath. Theologe und Soziologe. Er arbeitet als Religionslehrer an einer Berufsschule in MĂŒnchen. Von 2015 bis Anfang 2018 hat er fĂŒr die HuK als Leiter des Projekts „Gleichberechtigung von LSBT in der katholischen Kirche“ gearbeitet.

 

Anmerkungen

[1]  Vgl. Marian Eleganti: Homosexuellentabu ist Teil der Vertuschung, 05.09.2018, http://www.bistum-chur.ch/aktuelles/weihbischof-marian-eleganti-homosexuellen-tabu-ist-teil-der-vertuschung/ (07.09.2018); schon ein paar Tage vorher hatte der Churer Weihbischof sich zu dem Thema geĂ€ußert: Marian Eleganti: PrĂ€zisierung zu MissbrauchsfĂ€llen und HomosexualitĂ€t, 28.08.2018, http://www.bistum-chur.ch/aktuelles/weihbischof-eleganti-praezisierung-zu-missbrauchsfaellen-und-homosexualitaet/ (07.09.2018). ZurĂŒck

[2]  Vgl. Weihbischof Eleganti: Mehrheitlich homosexuelle StraftĂ€ter, in: katholisch.de 05.09.2018, http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/weihbischof-eleganti-mehrheitlich-homosexuelle-straftater (07.09.2018). ZurĂŒck

[3]  Vgl. Bob Shine: Bishop: Gay Priests „Wreaking Great Devastation“ in Church and Cause Abuse Scandal, in: New Ways Ministry, 03.09.2018, https://www.newwaysministry.org/2018/09/03/bishop-gay-priests-wreaking-great-devastation-in-church-and-cause-of-sexual-abuse/ (07.09.2018). A contradictory statement from Cardinal Cupich can be found here: Michael J. O’Loughlin: Cardinal Cupich supports investigation into mishandlings of McCarrick complaints, in: America Magazine, 07.08.2018, https://www.americamagazine.org/faith/2018/08/07/cardinal-cupich-supports-investigation-mishandling-mccarrick-complaints (07.09.2018). ZurĂŒck

[4]  Kardinal Bertone erzĂŒrnt Homosexuelle, in: Zeit-Online 14.04.2010, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-04/homosexualitaet-paedophilie-bertone (07.09.2018). ZurĂŒck

[5]  Vgl. Wunibald MĂŒller: „Keine falsche StĂ€rke vortĂ€uschen“, in: Herder Korrespondenz 64. Jg. (2010), Heft 3, 119-123, https://www.herder-korrespondenz.de/kirche/kirche-in-deutschland/die-neuen-faelle-von-sexuellem-missbrauch-werfen-fragen-auf-keine-falsche-staerke-vortaeuschen-auszug (07.09.2018). ZurĂŒck

[6]  Vgl. dazu die Kritik der klerikalen Orientierung in: Michael Brinkschröder, Jenseits von Klerikalismus und Neoliberalismus. Schwule Befreiungstheologie auf dialogisch-materialistischer Grundlage, in: Wolfgang SchĂŒrger, Christian J. Herz, Michael Brinkschröder (Hg.): Schwule Theologie. IdentitĂ€t - SpiritualitĂ€t - Kontexte, Stuttgart 2007, 31−68, 43−55. ZurĂŒck

[7]  Harald Dressing, Dieter Dölling, Dieter Hermann, Barbara Horten, Andreas Kruse, Eric Schmitt, Brittan Bannenberg, Konrad Whittaker, Hans-Joachim Salize: Sexual abuse of minors within the Catholic Church and other institutions, in: Neuropsychiatrie (2017) 31:45−55, DOI 10.1007/s40211-017-02223-4. Seitenangaben in diesem Abschnitt beziehen sich auf diese Studie. ZurĂŒck

[8]  James Alison: Caught in a trap of dishonesty, in: The Tablet, 04.08.2018, 10−13 und ders., The lying game, in: The Tablet, 11.08.2018, 6−8 (Übers. im Folgenden von M. B.). Schwer zu ĂŒbersetzen ist der Anklang an „Coming out of the closet“, was nicht nur ein Heraustreten aus dem Wandschrank bedeutet, sondern das Herauskommen mit seiner/ihrer HomosexualitĂ€t; verkĂŒrzt bekannt als Coming-out. ZurĂŒck

[9]  Alison definiert „gay“ als „stabile gleichgeschlechtliche Orientierung eines mĂ€nnlichen Erwachsenen“. Da ich den Begriff nicht mit „schwul“ ĂŒbersetzen möchte, lasse ich ihn unĂŒbersetzt. ZurĂŒck

[10]  Siehe dazu die nach wie vor aufschlussreichen Recherchen aus Rom von Thomas Migge: Kann denn Liebe SĂŒnde sein? GesprĂ€che mit homosexuellen Geistlichen, Köln 1993. ZurĂŒck

[11]  Eine Beschreibung, wie dies in der praktischen Arbeit der Glaubenskongregation funktioniert, findet man bei: Krzysztof Charamsa: Der erste Stein. Als homosexueller Priester gegen die Heuchelei der katholischen Kirche, MĂŒnchen 2017, 119ff. ZurĂŒck

[12]  Godehard BrĂŒntrup SJ: Der katholische Patient braucht einen Chirurgen, Domradio 06.09.2018, https://www.domradio.de/themen/weltkirche/2018-09-06/missbrauchsskandal-ist-die-katholische-kirche-noch-zu-retten (06.09.2018). ZurĂŒck

[13]  https://www.queer.de/detail.php?article_id=30884 (07.09.2018). ZurĂŒck

[14]  Warum Matthias Drobinski die Vertreter dieser Deutung fĂŒr Zyniker oder fĂŒr sarkastisch hĂ€lt, wird von ihm nicht begrĂŒndet und erschließt sich mir nicht. Der Vorwurf des Zynismus dĂŒrfte eher davon ablenken, genauer hinzuschauen. Vgl. Matthias Drobinski: Papst in der Krise, in: SĂŒddeutsche Zeitung, 06.09.2018, S. 4. ZurĂŒck

[15]  Carlo Maria ViganĂČ: Testimony, 22.08.2018, https://de.scribd.com/document/387040553/TESTIMONY-of-His-Excellency-Carlo-Maria-Vigano-Titular-Archbishop-of-Ulpiana-Apostolic-Nuncio. ZurĂŒck

[16]  Zu fragwĂŒrdigen Rolle von ViganĂČ bei der Untersuchung des Fall des ehem. Erzbischofs von Milwaukee, John Nienstedt, vgl. Brian Roewe: ViganĂČ’s role in Nienstedt case scrutinized anew with bishop’s statement, National Catholic Reporter 06.09.2018, https://www.ncronline.org/news/accountability/vigan-s-role-nienstedt-case-scrutinized-anew-bishops-statement (06.09.2018). ZurĂŒck

[17]  Robert Duncan, Junno Arocho Esteves: Letter confirms Vatican officials knew of McCarrick allegations in 2000, in: National Catholic Reporter 07.09.2018, https://www.ncronline.org/news/accountability/letter-confirms-vatican-officials-knew-mccarrick-allegations-2000 (08.09.2018). ZurĂŒck

[18]  Dieser trat schon ein Jahr spĂ€ter zurĂŒck, offiziell aus gesundheitlichen GrĂŒnden. ViganĂČ legt jedoch nahe, dass sexuelle Kontakte mit Seminaristen die wahre Ursache waren. ZurĂŒck

[19]  Ohne Autor: Maradiaga, Errazuriz y Ladaria, asesores de Bergoglio encubrieron a abusadores, in: ReligiĂłn, la voz libre, 18.02.2018, http://religionlavozlibre.blogspot.com/2018/02/maradiaga-errazuriz-y-ladaria-asesores.html (05.09.2018); Ohne Autor: Aceptan renuncia de obispo hondureño acusado de abusos, in: Excelsior 20.07.2018, https://www.excelsior.com.mx/global/aceptan-renuncia-de-obispo-hondureno-acusado-de-abusos/1253548 (05.09.2018). ZurĂŒck

[20]  Vgl. Harald Dreßing, Dieter Dölling, Dieter Hermann, Barbara Horten, Alexandra Collong, Andreas Kruse, Eric Schmitt, Jörg Hinner, Brittan Bannenberg, Andreas Hoell, Elke Voss, Hans Joachim Salize: Wie aktiv ist die katholische Kirche bei der PrĂ€vention des sexuellen Missbrauchs? Erste Ergebnisse der MHG-Studie, in: Psychiatrische Praxis 2018, Jg. 45, 103−105; aktuellere Zahlen hat die Gruppe noch nicht veröffentlicht. ZurĂŒck

[21]  Marie Collins: Marie Collins responds to Francis seeking transparency in bishop accountability process, in: National Catholic Reporter, 31.08.2018, https://www.ncronline.org/news/accountability/exclusive-marie-collins-responds-francis-seeking-transparency-bishop (06.09.2018). ZurĂŒck

[22]  Evelyn Finger: Im Namen der Opfer. Wende im Missbrauchsskandal: Australiens Bischöfe fordern vom Vatikan jetzt ein hartes Vorgehen gegen TĂ€ter und Vertuscher, in: Die Zeit, 06.09.2018, 48. Weitere Forderungen, die die Australische Bischofskonferenz unterstĂŒtzt sind: „Veröffentlicht Kriterien fĂŒr die Auswahl von Bischöfen, die die Sicherheit von Kindern garantieren! Macht die Berufung der Bischöfe transparent und beteiligt Laien! Schafft die VerjĂ€hrungsfristen ab! Unterbindet Aktenvernichtung!“ (ebd.). ZurĂŒck