UnterstĂŒtzungswerte Beziehungsform oder der Untergang des Abendlandes?

deko polyamorie logoSymbol fĂŒr Polyamorie (© CC BY-SA 2.0, Ratatosk, Wikimedia Commons)Das Getuschel in den Reihen der HuK war groß, als vor einigen Jahren ein schwules Paar aus der Mitgliederschar des Vereins nicht einfach zu zweit zur Mitgliedertagung anreiste, sondern einen dritten Mann zur Seite hatte, der – so stellte sich heraus – das Paar zum veritablen Triple erweiterte. Er war mit beiden MĂ€nnern des ursprĂŒnglichen Paars zusammen, sie hatten sich tatsĂ€chlich zu einer Dreierbeziehung zusammengefunden. Manche HuK-Mitglieder zerrissen sich darĂŒber das Maul („Na, da haben die beiden aber einen jungen Betthasen aufgerissen!”), andere schielten vielleicht auch ein wenig neidisch auf die Konstellation, die augenscheinlich als glĂŒcklich empfunden wurde und vor Erotik strotzend pure VitalitĂ€t und Lebensfreude ausstrahlte. Es entzieht sich meiner Kenntnis, wie es mit dieser Beziehung weiterging, ob sie nach wie vor Bestand hat oder lĂ€ngst zerbrochen ist, da ich die Beteiligten schon lĂ€nger nicht mehr gesehen habe. Fest steht, dass diese Beziehungsart damals eine gewisse Sensation darstellte, von manchen negativ, von anderen positiv gesehen. Und auch heute noch dĂŒrfte eine solche Beziehungsform vielfach auf sehr unterschiedliche Reaktionen stoßen, von manchen als Verwirklichung heimlicher, vielleicht zunĂ€chst einmal nur erotischer Fantasien herbeigesehnt, von anderen als unmoralisch und gesellschaftszersetzend abgelehnt. FĂŒr die drei war es einfach nur eine RealitĂ€t, in die sie vielleicht zufĂ€llig hineingeschlittert sind, die sie aber damals lebten und mit Sinn zu fĂŒllen suchten. Als sich bei der HuK-FrĂŒhjahrstagung 2014, die sich – wie auch schon die Herbsttagung 2013 – mit Familienbildern beschĂ€ftigte, eine Arbeitsgruppe mit dem Thema Polyamorie auseinandersetzte, waren solche zwiespĂ€ltigen GefĂŒhle der Sache gegenĂŒber offen greifbar. WĂ€hrend manche sich möglichst vorurteilsfrei darĂŒber verstĂ€ndigen wollten, um das PhĂ€nomen verstehen und einen entspannten Umgang damit erlangen zu können, Ă€ußerten andere die tiefsitzenden existenziellen Ängste, die das Thema bei ihnen auslöst.

Die HuK formuliert in der PrÀambel zur Vereinssatzung eine tolerante Grundhaltung und den Vorsatz, unterschiedliche Lebensformen respektieren und fördern, die Angst vor ihnen abbauen und deren Achtung stÀrken und einfordern zu wollen:

„Gottes Handeln in der Welt, von dem die Bibel Zeugnis gibt, erfahren wir als befreiende Botschaft. Befreite Menschen lĂ€dt Gott in eine Gemeinschaft ein, in der Gerechtigkeit herrschen soll und die MenschenwĂŒrde beachtet wird. Dieses gibt vielen Lebensformen Raum zur Entfaltung gelingenden Lebens. Wir verstehen homosexuelles und heterosexuelles Empfinden und Verhalten als gleichwertige AusprĂ€gung der einen menschlichen SexualitĂ€t. Deshalb arbeiten wir am Abbau von Diskriminierung und fordern die volle Teilhabe von Lesben und Schwulen am kirchlichen und gesellschaftlichen Leben.”

Wenn die HuK diesem Anspruch gerecht werden will, darf sie sich nicht damit begnĂŒgen, lediglich die Akzeptanz von HomosexualitĂ€t zu meinen und diese vor allem nicht nur fĂŒr diejenigen Homosexuellen einzufordern, die möglichst brav der gesellschaftlich anerkannten Norm der monogamen heterosexuellen Ehe nacheifern. In der HuK gibt es, wie auch in der gesamten LGBTTQI*-Community, immer wieder die Tendenz, vermeintlich gute, weil gesellschaftlich angepasste, nicht auffĂ€llige Homosexuelle gegen vermeintlich schlechte auszuspielen, die mit ihrer laut und sichtbar zur Schau getragenen Andersartigkeit, ihren alternativen LebensentwĂŒrfen und Beziehungsformen eine einzige Provokation darstellten und die Akzeptanz der HomosexualitĂ€t damit gefĂ€hrdeten. Wenn wir fĂŒr VerstĂ€ndnis werben, wenn wir AufklĂ€rung betreiben, Ängste abbauen wollen, dann darf dies nicht allzu schnell am eigenen Tellerrand aufhören, dann mĂŒssen wir uns selbst dazu ermahnen, unseren Ängsten zu begegnen und zu versuchen, etwas, das unserer eigenen Lebenswirklichkeit und Erfahrung widerspricht, möglichst vorurteilsfrei betrachten und verstehen zu wollen, um dann eventuell erfahren zu dĂŒrfen, dass unsere Ängste vielleicht unbegrĂŒndet sein und sich unsere Blicke auf eine Vielfalt weiten könnten, die die Liebe zum Leben, zur Schöpfung, zur Liebe vermehrt.

Von Verurteilungen abkommen

In diesem Sinne setzte sich die Arbeitsgruppe bei der FrĂŒhjahrstagung also hin und diskutierte das Thema Polyamorie, denn wenn – aktuell angeregt durch die auf den gesellschaftlichen Wandel reagierende Orientierungshilfe der EKD („Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie als verlĂ€ssliche Gemeinschaft stĂ€rken”) – eine HuK-Tagung ĂŒber Familienbilder spricht, dann sollte es wirklich um möglichst viele verschiedene Bilder vom Begriff Familie gehen, nicht nur um dasjenige der eingetragenen Lebenspartnerschaft zweier Frauen oder MĂ€nner, die vielleicht auch Kinder in die Partnerschaft mitbringen oder innerhalb der Partnerschaft bekommen und aufziehen. Schon die Eröffnungsrunde der Herbsttagung 2013 machte auf bewegende Weise bewusst, dass der Begriff Familie fĂŒr fast jede und jeden der Anwesenden etwas anderes bedeutet, dass sich höchst unterschiedliche Vorstellungen, Erfahrungen und WĂŒnsche damit verknĂŒpfen. Insofern war es konsequent, sich in der Polyamorie-Arbeitsgruppe einmal mit Beziehungsformen auseinanderzusetzen, die der gesellschaftlichen Norm nicht entsprechen, und den Versuch zu wagen, dazu eine Haltung zu finden, die – auch im christlichen Sinne – ethische Kriterien entwirft, unter denen man von Verurteilungen abkommen und Respekt vor alternativen Beziehungsformen aufbauen kann.

deko polyamorie schlossPolyamorie? (© CC BY-NC-SA 2.0, NiceBastard, Flickr)ZunĂ€chst war es nötig, sich den Sinn des Wortes Polyamorie klar zu machen, ihn von anderen Begriffen abzugrenzen, die einem vielleicht spontan im Zusammenhang mit ihm einfallen. Die erste Hilfsdefinition wurde mit der „FĂ€higkeit, mehr als eine Person gleichzeitig lieben zu können” aufgestellt. Doch erwies sich diese als löchrig, denn obwohl manche der Workshop-Teilnehmenden von eigenen Erfahrungen berichteten, schon in mehrere Menschen gleichzeitig verliebt gewesen zu sein oder neben einer bestehenden Beziehung sich auch gelegentlich in andere Menschen verliebt zu haben (was also die grundsĂ€tzliche individuelle FĂ€higkeit der Liebe zu mehreren Menschen gleichzeitig aufzeigt), so blieben diese Erlebnisse doch ganz theoretisch bei der Feststellung des bloßen GefĂŒhls, ohne dass daraus praktisches Handeln und somit eine wirkliche Beziehungsform entstanden wĂ€re. In einem solchen Fall hĂ€tte freilich die Notwendigkeit bestanden, sich zahlreichen Fragen zu stellen: Ist es möglich, mit mehreren Menschen gleichzeitig eine Beziehung zu fĂŒhren? Was sagen die anderen dazu? Wollen dies alle Beteiligten im gleichen Maße? Sind alle gleichberechtigt? Gibt es Ungleichgewichte? Wie leben wir diese Beziehung konkret? Welche Absprachen sind nötig? Wieviel GesprĂ€chsbereitschaft und -notwendigkeit besteht in einer solchen Konstellation? Wie reagiert unser soziales Umfeld darauf? Sicher, eine solche Beziehung wĂ€re nicht einfach und birgt wahrscheinlich viele Gefahren von Verletzungen. WĂ€re sie daher von vornherein zum Scheitern verurteilt oder als schlecht oder gar böse zu verwerfen? Darauf sei weiter unten noch ausfĂŒhrlicher eingegangen. ZunĂ€chst einmal soll in der Begriffsbestimmung fortgefahren werden.

Abzugrenzen ist die Polyamorie unter anderem von folgenden anderen Begriffen:

  • PromiskuitĂ€t: Sie ist zunĂ€chst einmal auf die bloße sexuelle BetĂ€tigung beschrĂ€nkt und meint keine Beziehung, die auf eine gewisse Dauer hin angelegt wĂ€re. Das Interesse ist auf – in der Regel einmalige – Sexualkontakte, One-Night-Stands etc. gerichtet, auch wenn diese Begegnungen nicht zwingend und pauschal – wie dies von manchen Seiten immer wieder geschieht – als lieblos, bloß triebgesteuert, egoistisch, hedonistisch etc. verunglimpft werden mĂŒssen. (FĂŒr manche Menschen, die in unserer individualisierten und kommerzialisierten Welt keine_n Partner_in finden, auch wenn sie es sich sehr wĂŒnschen und alles dafĂŒr tun, stellen promiske Sexualkontakte in Saunen, ĂŒber das Internet oder Ă€hnliches die einzige Art der IntimitĂ€t dar, die ihnen zugĂ€nglich ist, weshalb sie in diese Begegnungen – gleichsam wie in einer Instantbeziehung – all ihren Wunsch und ihre FĂ€higkeit legen, nicht nur selbst ZĂ€rtlichkeiten zu empfangen, sondern sie auch mit Behutsamkeit und FĂŒrsorge in Verantwortung fĂŒr den_die Partner_in jemand anderem geben zu dĂŒrfen.)
  • Offene Beziehung: Wenn ein Paar die Absprache trifft, dass die SexualitĂ€t nicht exklusiv auf die Zweierbeziehung beschrĂ€nkt bleiben muss, sondern daneben auch Kontakte mit anderen, wechselnden Sexualpartner_innen erlaubt sind (freilich in der Regel unter Einhaltung gewisser Spielregeln, die das Potential zur GefĂ€hrdung der eigentlichen Beziehung mindern sollen), so ist dies zunĂ€chst eine Variante der PromiskuitĂ€t, die sich jedoch unter UmstĂ€nden zu einer
  • AffĂ€re entwickeln kann, wenn ein_e Partner_in außerhalb der Beziehung öfter getroffen wird und dabei eventuell auch GefĂŒhle entstehen können, die ĂŒber das rein körperliche Interesse hinausgehen. Dasselbe gilt fĂŒrs
  • Fremdgehen: Existiert keine Absprache einer offenen Beziehung, sondern vielleicht sogar das ausgesprochene Missfallen von Sexualkontakten außerhalb einer Zweierbeziehung, geht also eine_r der Partner_innen ohne Wissen und grundsĂ€tzliche Billigung des_der anderen außerhalb der Beziehung einmalige oder mehrmalige Treffen mit Dritten ein, so wird dies allgemein ethisch als expliziter Treuebruch angesehen und verurteilt, der zu tiefgehenden emotionalen Verletzungen fĂŒhren kann, sollte die AktivitĂ€t außerhalb der Beziehung dem_der anderen Partner_in bekannt werden.
  • Polygamie/Polyandrie: Auf den ersten Blick mag es sich dabei – etwa bei der frĂŒher erlaubten Polygamie der Mormonen oder beim Harem eines osmanischen Pascha – um polyamoröse Beziehungen handeln, doch ist zur Unterscheidung davon nötig zu sehen, dass es in der Polygamie oder Polyandrie eine Zentralfigur gibt, die das Recht hat, mehrere Partner_innen des anderen Geschlechts gleichzeitig zu heiraten, was den jeweiligen Partner_innen aber wiederum versagt bleibt. Auch kann es sein, dass die Partner_innen selbst untereinander keinerlei Kontakt haben. Hier ist also ein klares GefĂ€lle und ein Ungleichgewicht zwischen den Beteiligten vorhanden, wĂ€hrend polyamoröse Beziehungsformen – im Idealfall – eher gleichberechtigt vernetzte, dezentrale Strukturen aufweisen.
  • Fuck Buddies: Hierunter versteht man Freundschaften, die mehr oder weniger regelmĂ€ĂŸige sexuelle Kontakte beinhalten können, ohne dass die beteiligten Personen sich als Liebespartner_innen definieren wĂŒrden.
  • Serielle Monogamie: Diese dĂŒrfte wohl eine weit verbreitete Erfahrung sein, da die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens nacheinander mehrere Beziehungen eingehen, die zu Beginn durchaus alle auf Dauer und ExklusivitĂ€t hin angelegt worden sein mögen, sich dann aber wieder auseinandergelebt und getrennt haben.

„Beziehungen können gelingen oder scheitern, unabhĂ€ngig von ihrer Form.”

Eine Konstellation von drei oder mehr Menschen kann sicher im emphatischen Sinne als polyamoröse Beziehung betrachtet werden, wenn sie die beteiligten Personen in freier gemeinsamer Entscheidung eingehen, wenn darin eine gewisse Gleichberechtigung untereinander, das Wahrnehmen gegenseitiger Verantwortung und eine gewisse Dauer der Beziehung angestrebt wird. Das kann bisexuelle Menschen betreffen, die Partner_innen beiderlei Geschlechts finden, welche zu einer solchen Bindung bereit sind. Das können ein lesbisches und ein schwules Paar sein, die sich zunĂ€chst zusammen tun, um den gemeinsamen Kinderwunsch zu verwirklichen (vielleicht sogar zu diesem Zweck miteinander schlafen) und dann als große Regenbogenfamilie zusammenbleiben und sich als mehr begreifen denn als zwei getrennte Paare mit gemeinsamen Kindern, sondern die in ErfĂŒllung der gemeinsamen Verantwortung auch Liebe zueinander empfinden, selbst wenn sich diese nicht sexuell Ă€ußert. (FĂŒr die Definition einer Partnerschaft ist SexualitĂ€t auch nicht unbedingt notwendig, schließlich gibt es viele Langzeitpaare, die seit langem keinen Sex mehr haben und sich dennoch – z. B. kuschelnd – körperlich nah sind.) Das kann ein schwules oder lesbisches oder Heteropaar sein, bei dem sich aus einer AffĂ€re, die beim Ausleben einer offenen Beziehung entstanden ist, eine Dreierkonstellation wird, wenn sich alle drei kennen- und lieben lernen und einem solchen Schritt zustimmen. Das kann ein scheinbarer Mann sein, der in einer heterosexuellen Ehe lebt, aufgrund der eigenen TranssexualitĂ€t eine Geschlechtsangleichung durchlebt, sich danach (als Frau) in einen Mann verliebt, die Beziehung zur Ehefrau aber nicht aufgeben will. Vielleicht entwickelt sich daraus – sicher selten, aber doch nicht auszuschließen – eine Dreierbeziehung, vorausgesetzt, die Ehefrau und der neue Mann können und wollen den Schritt mitgehen. Wer solche FĂ€lle fĂŒr an den Haaren herbeigezogen hĂ€lt, die_der weiß nicht ansatzweise, was es alles in Liebesdingen auf dieser Welt gibt!

deko polyamorie hochzeitHochzeit zu dritt (© CC BY-NC-ND 2.0, Angie Gaul, Flickr)An dieser Stelle wĂŒrde ein möglicher Einwand nicht ĂŒberraschen, der Zweifel daran Ă€ußert, ob solche Beziehungen ĂŒberhaupt dauerhaft halten und gelingen können. Generell muss aber gesagt werden, dass keine Beziehungsform – egal ob exklusive Zweierbeziehung oder polyamoröse Beziehung – eine Garantie auf Dauerhaftigkeit beanspruchen kann. Beziehungen können gelingen oder scheitern, unabhĂ€ngig von ihrer Form. Die Möglichkeit, dass eine Beziehung scheitert, stellt keinen Grund dafĂŒr dar, sie zu verdammen und ein moralisches Urteil ĂŒber sie auszusprechen. Weil Beziehungen scheitern können, sind sie nicht per se schlecht oder böse, sie verlieren deshalb nicht ihr Recht darauf, gewĂŒrdigt zu werden und UnterstĂŒtzung zu erfahren. Entscheidender ist, wie groß der Wille ist, innerhalb einer Beziehung fĂŒreinander Verantwortung zu ĂŒbernehmen. In welchem Maße sind die Beteiligten ernsthaft bemĂŒht, sich an gemeinsam getroffene Absprachen zu halten, wie groß ist der Wille, die GefĂŒhle der Partner_innen nicht willentlich zu verletzen oder bei unbeabsichtigt zugefĂŒgten Verletzungen fĂŒr die eigenen Fehler einzustehen und sie wieder gut zu machen? Dies fĂŒhrt zu der Frage, welches denn eigentlich – auch im christlichen Sinne – Kriterien fĂŒr eine gelingende Beziehung sind. Ein Brainstorming wĂ€hrend des Workshops hat zu folgenden Punkten gefĂŒhrt:

  • Beziehungen beruhen auf einvernehmlichen, mĂŒndigen Entscheidungen aller beteiligten Partner_innen, die zu der Beziehung Ja sagen.
  • Bei allen Partner_innen einer Beziehung ist der Wille vorhanden, sich und den_die Partner_in(nen) glĂŒcklich zu machen und voneinander Schaden fern zu halten.
  • Das Fundament einer Beziehung sind Liebe, Vertrauen, Gleichberechtigung und VerlĂ€sslichkeit.
  • In einer Beziehung sollte ein Gleichgewicht zwischen den Partner_innen herrschen. Dieses Gleichgewicht kann freilich dynamisch sein, mal zur einen, mal zur anderen Seite ausschlagen. Aber insgesamt sollte niemand in einer Beziehung generell und dauerhaft benachteiligt werden.
  • Partner_innen haben fĂŒreinander Interesse, Anteilnahme und Offenheit.
  • Partner_innen fĂŒhlen sich aufeinander bezogen, wollen nicht aneinander vorbei leben.
  • Partner_innen achten aufeinander, sind gewillt, die GefĂŒhle, Sorgen, Freuden, Ängste etc. des_der anderen wahr- und ernstzunehmen.
  • Partner_innen sind sich selbst und dem_der/den anderen gegenĂŒber ehrlich.
  • Partner_innen pflegen eine positive Beziehung zum Körper des_der anderen („können sich gegenseitig riechen”).
  • Partner_innen ĂŒben sich in KonfliktfĂ€higkeit, sind gewillt, Probleme gemeinsam aus dem Weg zu rĂ€umen und nicht nur die eigenen GefĂŒhle und Befindlichkeiten zu sehen, sondern auch diejenigen des_der anderen.
  • Partner_innen akzeptieren, dass der_die andere(n) – wie auch sie selbst – nicht perfekt ist/sind, sind bereit, einander Fehler nachzusehen und zu verzeihen.
  • Partner_innen teilen soziale Kontakte, Freunde, Familien.
  • Partner_innen gestehen sich gegenseitig auch – trotz aller Aufeinanderbezogenheit – das Recht auf SelbstĂ€ndigkeit zu, sehen das GegenĂŒber nicht als Eigentum an.

„Beziehungen sind prozesshaft.”

Die Orientierungshilfe der EKD fĂŒhrt ferner die Dauerhaftigkeit einer Beziehung als Bewertungskriterium auf, außerdem ihre GenerativitĂ€t bzw. Fruchtbarkeit. Zweifelsohne können aus Beziehungen, in die Frauen involviert sind, Kinder hervorgehen. Sind deshalb rein mĂ€nnliche Beziehungen, wo dies – außer durch Adoption – nicht geschehen kann, weniger wert? Hier stellt sich die Frage, ob die Fruchtbarkeit einer Beziehung nicht auch ganz anders wirksam werden kann als durch Kinder. Man denke beispielsweise an den englischen Komponisten Benjamin Britten und seinen langjĂ€hrigen Lebenspartner, den Tenor Peter Pears (die beiden waren ĂŒber 40 Jahre ein Paar!). Aus der Beziehung ging ein ungeheurer kultureller Schatz hervor, der durch die gegenseitige Inspiration genĂ€hrt wurde. Britten liebte Pears' Stimme und schrieb fĂŒr sie unzĂ€hlige Lieder, Oratorien und Opernrollen, die Pears in höchster Vollendung zur AuffĂŒhrung brachte. Freilich, Ă€hnliches ist nicht jeder Beziehung gegeben, aber GenerativitĂ€t kann sich in vielfĂ€ltiger Weise Ă€ußern (etwa durch ein besonders vorbildliches und ausstrahlendes Sozialverhalten).

deko polyamorie flaggePolyamorie-FlaggeAll diese Kriterien stellen natĂŒrlich – in dieser HĂ€ufung – ein Ideal von Beziehung dar. Die Vorstellung, ihnen samt und sonders zu genĂŒgen, kann lĂ€hmen und erdrĂŒcken. Beziehungen sind prozesshaft, leben auch vom „Learning by doing”, vom Versuch und Irrtum. Es wĂ€re fĂŒr Partner_innen einer Beziehung immer wĂŒnschenswert, in deren Prozess Teile dieses Ideals erlernen zu wollen. Man sollte allerdings von außen nicht mit der Moralkeule schwingen wollen, wenn Beziehungen Probleme haben und an solchen Idealen zu scheitern drohen. Zuallererst zĂ€hlt der Wille, den es zu unterstĂŒtzen und wertzuschĂ€tzen gilt. Beziehungen sind nicht nur in der ErfĂŒllung des Ideals gelingend, sondern auch im ehrlichen Versuch, sich ihm schrittweise anzunĂ€hern – selbst wenn die AnnĂ€herung eine Asymptote beschreibt, die nie mit dem Ideal zusammentrifft. Eines wurde in jedem Fall in der Diskussion bewusst: Das Gelingen einer Beziehung im Sinne der genannten Kriterien ist nicht von vornherein an bestimmte Beziehungsformen gebunden! Jede denkbare Beziehungsform, die auf diesen Kriterien fußt, sie ganz oder teilweise zu erfĂŒllen sucht, kann gelingen oder scheitern. Das gilt fĂŒr die monogame Zweierbeziehung genauso wie fĂŒr polyamoröse Beziehungen. Ja, einige der Kriterien können sogar in manchen promisken, zeitlich begrenzten Sexualkontakten verwirklicht werden, die durch eine besondere SensibilitĂ€t fĂŒreinander geprĂ€gt sind, durch den Wunsch, sich – wenn auch nur kurz –  intensiv, ehrlich und menschlich zu begegnen, durch Verantwortung, die fĂŒreinander wĂ€hrend der Begegnung ĂŒbernommen wird, durch das Vertrauen und Interesse, das sich gegenseitig geschenkt und entgegengebracht wird.

Bedenken ĂŒberwinden – SolidaritĂ€t und Hilfe weitergeben

Doch zurĂŒck zu polyamorösen Beziehungen: Auch sie können in diesem Sinne gelingen. Es steht freilich außer Frage, dass sie sehr wahrscheinlich nicht gerade einfacher gelingen als Zweierbeziehungen. Einige Schwierigkeiten mögen drohen und ihre StabilitĂ€t gefĂ€hrden. Die Gefahr von Ungleichgewicht ist sicher gegeben (jedoch: nur, weil sie hier vielleicht höher ist als in Zweierbeziehungen, ist sie in solchen nicht gĂ€nzlich fort). Die Partner_innen in polyamorösen Beziehungen mĂŒssen sehr wahrscheinlich eine höhere Bereitschaft fĂŒr offene, ehrliche BeziehungsgesprĂ€che an den Tag legen, mĂŒssen eine erhöhte SensibilitĂ€t fĂŒr beziehungsinterne Konfliktpotentiale und Verletzungen aufweisen. Sie mĂŒssen vielleicht noch mehr fĂŒreinander verlĂ€sslich sein. Das Thema Eifersucht kann einen gewissen Grad an KomplexitĂ€t erlangen. Schließlich kann der soziale Druck des Umfelds höher sein, die Familien und Freunde_innen der Beteiligten können befremdet oder ablehnend auf eine ungewohnte Beziehungsform reagieren, was negative Auswirkungen auf die StabilitĂ€t und Dauerhaftigkeit einer Beziehung haben kann. Aber nochmals: Eine Garantie auf Gelingen, auf eine Beziehung bis in den Tod hinein gibt es nirgends. Beziehungen sind immer Arbeit. Diese Arbeit kann prinzipiell jede und jeder aufzubringen bereit sein. Die Frage, wie eine Beziehungsform, eine konkrete Beziehung ethisch/moralisch/christlich zu bewerten ist, sollte allein vom Verhalten der beteiligten Personen, nicht von der Ă€ußeren Formgebung abhĂ€ngig sein. Gott will gelingendes Leben. Gelingende Beziehungen, egal welcher Konstellation, Beziehungen, die sich nach den genannten idealen Kriterien ausrichten und diese zu verwirklichen suchen, sollten eigentlich ganz im Sinne Gottes sein. Daher sollten sie auch nicht ethisch/moralisch/christlich verworfen und geĂ€chtet, sondern unterstĂŒtzt und wertgeschĂ€tzt werden. Vor gelingenden Beziehungen braucht niemand Angst zu haben. Niemand muss in ihnen Zeichen dafĂŒr sehen, dass die Welt unterginge, auch wenn eine konkrete Beziehungsform nicht der eigenen Lebenserfahrung gleicht.

deko polyamorie prideFußgruppe auf dem Vancouver Pride 2014 (© CC BY-NC-SA 2.0, Neal Jennings, Flickr)Solche Ängste sind vorhanden, auch innerhalb der HuK! Im Workshop wĂ€hrend der Tagung wurden teilweise BefĂŒrchtungen ausgesprochen, die HuK wolle (oder solle) sich fĂŒr eine relativistische Gesellschaft einsetzen, in der keine VerlĂ€sslichkeit mehr zu finden ist, in der alles fĂŒr gleichgĂŒltig erklĂ€rt wird, eine Gesellschaft, in der man ĂŒberhaupt nicht mehr weiß, worauf man sich verlassen kann. Darum geht es aber nicht! Die HuK sollte sich als christlicher Verein fĂŒr christliche Werte, fĂŒr Verbindlichkeiten, gegen OberflĂ€chlichkeit, Lieblosigkeit einsetzen. Aber ist es richtig, dabei beim eigenen Erfahrungshorizont aufzuhören? Ist es richtig, fĂŒr sich selbst Toleranz, Akzeptanz, WertschĂ€tzung und UnterstĂŒtzung einzufordern, wĂ€hrend man selbst Menschen eben diese Behandlung versagt, die wieder andere Erfahrungen außerhalb des eigenen Horizonts machen (und dabei genauso wenig Schaden anrichten wie man selbst)? Vorurteile sind platt und unredlich, und wir alle sind von ihnen nicht frei. Als Christ_innen haben wir aber die Aufgabe, uns unserer Vorurteilshaftigkeit bewusst zu werden und sie abzubauen, unser GegenĂŒber in seiner_ihrer Andersartigkeit und Lebenswirklichkeit verstehen zu wollen um zu erkennen, dass es oft unsere eigenen kranken Fantasien sind, die uns Ängste und Unwohlsein bereiten, wenn wir Menschen begegnen, die ihr Leben anders leben als wir selbst. Wenn man kennenlernt, welches die BeweggrĂŒnde dafĂŒr sind, weshalb unser GegenĂŒber so lebt, empfindet, liebt, handelt, wie er_sie es tut, wenn wir lernen, uns hineinzuversetzen in andere Lebenswirklichkeiten und -entwĂŒrfe, dann schwinden oft die Ängste und werden zu einem herzhaften Lachen ĂŒber die eigene Engstirnigkeit, die man wieder einen Schritt weit ĂŒberwunden hat. Daraus folgt nun nicht zwingend, dass man selbst – um wieder konkreter auf das Thema dieses Textes zurĂŒckzukommen – eine polyamoröse Beziehung eingehen soll. Indem man sich dafĂŒr einsetzt, dass andere Lebens- und Beziehungsformen denselben Respekt, dieselbe Liebe erfahren können wie die eigene, sagt man nicht, dass nunmehr nur noch diese Lebens- und Beziehungsformen gefördert werden sollen. Der Einsatz fĂŒr Lebenspartnerschaften, fĂŒr kirchliche Segnungsgottesdienste von homosexuellen Paaren, wird dadurch nicht geschmĂ€lert oder gar eingestellt, ebenso wenig, wie die heterosexuelle Ehe durch eine entsprechende Rechtsform und durch die Möglichkeit einer Partnerschaftssegnung fĂŒr Homosexuelle in irgendeiner Weise tangiert wird. Aber muss dieses homosexuelle Abbild der heterosexuellen Ehe die einzige Beziehungsform sein, fĂŒr deren Akzeptanz und UnterstĂŒtzung man sich einsetzt? Im gleichen Maße, wie Gesellschaft und (evangelische) Kirche mittlerweile weitgehend gelernt haben, dass von einer verantwortungsvoll gefĂŒhrten homosexuellen Paarbeziehung keinerlei Gefahr ausgeht, dass ihre Verbindung Respekt verdient, einen rechtlichen Status und kirchlichen Segen erhalten kann, im gleichen Maße können Gesellschaft und Kirche in Zukunft auch lernen, dass es weitere Beziehungsformen geben kann, die ebenso schĂŒtzenswert sind, da sie die oben angefĂŒhrten Kriterien erfĂŒllen und ihren Beitrag zu einer verantwortungsvollen, fruchtbaren Gesellschaft leisten. Es wĂ€re schön, wenn zukĂŒnftig viele Beziehungsformen einen rechtlichen Status erhielten, wenn Menschen, die sich in einer verantwortungsvollen polyamorösen Beziehung zusammengefunden haben, die Kirche um ihren Segen bitten könnten und nicht abgewiesen werden wĂŒrden. Vorher gilt es aber, aufzuklĂ€ren, Ängste abzubauen, mit Menschen ins GesprĂ€ch zu kommen, die von ihren Lebenserfahrungen sprechen, so wie das beim Thema HomosexualitĂ€t schon lĂ€ngst geschehen ist. Wir haben dabei vielfach SolidaritĂ€t und Hilfe von „Nichtbetroffenen” erfahren. Umso natĂŒrlicher muss unser BedĂŒrfnis sein, diese SolidaritĂ€t und Hilfe an andere weiterzugeben, die sie genauso verdienen wie wir selbst, denen sie aber noch verwehrt werden, weil die vermeintliche Andersartigkeit und Fremdheit ihrer Beziehungsformen Ängste weckt, die eigentlich unbegrĂŒndet sind.

Dr. Franz Kaern-Biederstedt, September 2014