Von Reinhold Weicker, Paderborn

Dass es zum Thema „HomosexualitĂ€t und christlicher Glaube” / „Homosexuelle und Kirche” unterschiedliche Meinungen gibt, ist bekannt. Wir wissen, dass insbesondere Christen, die die Bibel als verbal von Gott inspiriert sehen, oft meinen, gelebte HomosexualitĂ€t sei unchristlich. Bei Diskussionen, die in Synoden, Gemeindegruppen usw. gefĂŒhrt werden, kommt jetzt aber immer wieder ein neues Argument hinzu:

  • Ihr (die Kirchen, die Gemeinden, die Synoden, die Kirchenleitungen, ...) braucht doch gar nicht auf homosexuelle Gemeindeglieder RĂŒcksicht zu nehmen, Euch ĂŒber mögliche Segnungen fĂŒr schwule und lesbische Paare Gedanken zu machen usw.: HomosexualitĂ€t kann doch geheilt/verĂ€ndert werden; „die Wissenschaft hat das bewiesen”. Und dann folgt oft die angebliche Konsequenz: Die, fĂŒr die man wirklich etwas bieten mĂŒsse, das seien doch die, die von ihrer HomosexualitĂ€t loskommen wollen, ... „und das ist möglich; die Wissenschaft hat es bewiesen”.

Wenn man fragt, welche Wissenschaft das sei, findet man meist eine kleine Gruppe von Autoren wie Nicolosi, Van den Aardweg, die immer wieder zitiert werden. Ihr Ansehen in der Fachwelt ist allerdings durchaus umstritten, um nicht zu sagen: gering. Da kommt es den Vertretern einer VerĂ€nderbarkeits- Theorie durchaus entgegen, dass sie seit 2001 Prof. Robert Spitzer (Columbia University, USA) als eine Art Kronzeugen zitieren können. Dies ist besonders verlockend, da er 1973 in der American Psychiatric Association (APA) einer der Leute war, die dafĂŒr argumentierten, dass dieser Fachverband HomosexualitĂ€t aus der Diagnoseliste der psychischen Störungen (DSM-II) gestrichen hat.

In dem Artikel von Christl R. Vonholdt „HomosexualitĂ€t verstehen” [5], den man wohl als eine Art Grundsatzpapier des von ihr geleiteten Instituts (Deutsches Institut fĂŒr Jugend und Gesellschaft, DIJG) verstehen kann, wird dementsprechend zur BegrĂŒndung der These, dass HomosexualitĂ€t eine „Entwicklungsstörung” sei, auf Robert Spitzer und seinen Vortrag von 2001 verwiesen.

Sehen wir doch einmal nach, was Robert Spitzer in seinem Vortrag von 2001 gesagt hat. Ich zitiere nach der deutschen Übersetzung seines Vortrags [4], wie ihn das DIJG auf seinen Webseiten veröffentlicht hat, also bestimmt keine Homosexuellen-freundliche Quelle.

Spitzer entwickelte einen Fragebogen, in dem u. a. nach „SchlĂŒssel-Indikatoren fĂŒr HomosexualitĂ€t” gefragt wurde, z. B. sexuelle Anziehung, lustvolle Gedanken, homosexuelle Phantasien wĂ€hrend der Masturbation, usw. Dann suchte er nach Personen, fĂŒr die galt

  • Vorher ĂŒberwiegend homosexuelle Anziehung
  • Danach eine seit mindestens fĂŒnf Jahren anhaltende VerĂ€nderung der sexuellen Anziehung

Von den ursprĂŒnglich 274 Teilnehmern, auf die dies zuzutreffen schien, wurden 74 ausgeschlossen, so dass 200 verblieben. Der Fragebogen wurde in einem einmaligen Telefon-Interview (112 Fragen, 45 Minuten) abgearbeitet; eine weitere Kontroll-Befragung erfolgte nicht. Es wurden auch nicht, wie man erwarten könnte, nach der Gesamtheit der Personen (oder einer reprĂ€sentativen Auswahl daraus) gesucht, die eine Umorientierung angestrebt hatten, und dann untersucht „Wie viele hatten Erfolg / Wie viele hatten keinen Erfolg?”. Es wurden nur solche befragt, die nach eigener Angabe „Erfolg hatten”. Diese Grundsatzentscheidung kann man Spitzer, wenn er darauf offen hinweist â€“ und das tut er – nicht vorwerfen. Von „Erfolgsquote” (manche konservative Gruppen benutzten diesen Ausdruck) kann man dann aber natĂŒrlich nicht sprechen: Wenn es eine Quote gab, dann beruhte sie nicht auf der Wirksamkeit der Methode, sondern auf der Auswahl der Teilnehmer. Und auch zu dem Grad des „Erfolgs” gibt es durchaus kritische Anfragen, z. B. gab es immerhin noch bei 71 % der mĂ€nnlichen und 37 % der weiblichen „erfolgreich VerĂ€nderten” homosexuelle Merkmale, die oberhalb von „gelegentlich” oder „gering” legen. FĂŒr Einzelheiten sei auf [2] und [3] verwiesen; ich will aus PlatzgrĂŒnden hier nicht im Einzelnen darauf eingehen.

Zur EinschĂ€tzung der Aussagekraft der Studie will ich aber der Frage nachgehen: Wer hat denn an der Studie teilgenommen? 200 Personen – das ist ja nicht allzu viel. „Fast die HĂ€lfte der Amerikaner behauptet von sich, ‚born again’ zu sein. Die Zahl von christlichen Homosexuellen, die Heilung sucht, dĂŒrfte also recht hoch sein. Es gibt -zig Ex-Gay-Organisationen in den USA, die alle hohe Heilungsquoten versprechen und Hunderten bis Tausenden geholfen haben wollen.” [2]

Spitzer selbst gibt in seiner Studie darĂŒber offen Auskunft, es heißt z.B. in [4] auf Folie 38 „Schwierigkeiten, geeignete Teilnehmer zu finden, lĂ€sst vermuten, daß erhebliche VerĂ€nderung eher ungewöhnlich ist.” Wichtig sind vor allem die Daten in Folie 15: FĂŒr 93 % der Teilnehmer ist Religion „außerordentlich wichtig” oder „sehr wichtig”; dies ist auch fĂŒr US-amerikanische VerhĂ€ltnisse eine sehr hohe Zahl. Noch wichtiger: 78 % haben sich „in der Öffentlichkeit fĂŒr das Recht auf VerĂ€nderung eingesetzt”. Dies, zusammen mit der in absoluten Zahlen geringen Anzahl der Teilnehmer (200), bestĂ€tigt, was Spitzer auch gar nicht bestreitet: Hier wurden ĂŒberwiegend die FunktionstrĂ€ger von Gruppen wie NARTH o. Ă€. befragt. Man stelle sich eine medizinische Studie vor, die klĂ€ren soll, ob ein bestimmtes Krebsmittel wirksam ist. WĂŒrde man da eine Studie als beweiskrĂ€ftig ansehen, die auf einer Telefonbefragung bei der Vertriebsmannschaft dieses Krebsmittels beruht? Wenn von ihnen eine Mehrheit sagt „Ja, das Mittel hat mir geholfen”? WĂŒrde man nicht mindestens erwarten, dass ĂŒber die Erfolgsquote bei allen, die das Mittel genommen haben, geforscht wird?

Dazu ein Zitat von Prof. Robert Spitzer [4] (Text zu Folie 12):
„Die 200 Teilnehmer kamen vorwiegend aus religiösen Ex-Gay Gruppen, die verschiedene Programme fĂŒr Homosexuelle anbieten, die sich verĂ€ndern möchten. Andere kamen von NARTH, der ‚Nationalen Gesellschaft fĂŒr Forschung und Therapie von HomosexualitĂ€t’ einer Gruppe von Psychologen und Laien, die HomosexualitĂ€t weitgehend als eine behandelbare Entwicklungsstörung ansehen. ‚Andere’ waren Therapeuten, die im Bereich der sexuellen Neuorientierung arbeiten oder Teilnehmer, die sich auf Hinweise im Radio oder auf Zeitungsannoncen gemeldet hatten.”

Nach eigenen Angaben hat allein NARTH an die 1500 Mitglieder [1]. Man kann annehmen, dass viele von Ihnen in therapeutischen Berufen tĂ€tig sind und Zugang zu vielen Menschen haben sollten, die fĂŒr eine solche Studie in Frage kĂ€men. Wenn nur 274 sich zu der Telefonbefragung zur Spitzer-Studie gemeldet haben (von denen 200 zugelassen wurden), dann liegt der Schluss nahe, dass es sich hier um die „Creme de la Creme” handelt. Und die Folgerung: Welche Aussagekraft hat eine Behauptung „HomosexualitĂ€t ist verĂ€nderbar”, wenn sie auf einer Befragung einer solch kleinen Gruppe von Menschen beruht, die noch dazu zu 78 % aus Personen besteht, die sich schon öffentlich in Richtung dieser These festgelegt hatten?

Robert Spitzer selbst schien die Problematik, die in dieser Frage steckt, zu ahnen. Seine abschließende Folie 40 sagt, es wĂ€re ein „Missbrauch der Forschungsergebnisse”, wenn man daraus schließen wolle, „dass sie beweist: VerĂ€nderung einer homosexuellen Orientierung ist fĂŒr die meisten hoch motivierten Personen möglich” (Hervorhebung von Spitzer). Außerdem sagt er, es wĂ€re ein Missbrauch, wenn auf Grund der Studie „BĂŒrgerrechte vorenthalten” wĂŒrden. Wissen das die streitbaren Leute von OJC, DIJG u. a. wirklich nicht? Warum gehen sie dann mit Berufung auf solche Studien in der Politik gegen das Lebenspartnerschaftsgesetz an, oder in den Kirchen gegen Offenheit fĂŒr schwule und lesbische Gemeindeglieder, wenn sie sich nicht „heilen” lassen können und wollen?

Nachtrag (Sept. 2007): FĂŒr die LeserInnen, die gut Englisch verstehen, bietet ein Artikel „Analysis of Dr. Spitzer's Study on Reparative Therapy” [6] eine gute Darstellung der Studie und der Kontroversen, die ihr vorangegangen sind und die folgten. Im Anhang zu dem Artikel wird u.a. Robert Spitzer selbst wie folgt zitiert [CNN, 09.05.2001, Übersetzung RW]: „Unser Personenkreis war selbst-ausgewĂ€hlt, aus dem Kreis von Personen, die schon behauptet hatten, dass bei ihnen eine Änderung gewesen sei. Wir wissen nicht, wie hĂ€ufig diese Art Änderung ist. ... Ich sage nicht, dass dies leicht getan werden kann, oder dass die meisten Homosexuellen, die sich Ă€ndern wollen, diese Art Änderung machen können. Ich nehme an, dass es ziemlich ungewöhnlich ist.”

Nachtrag (Juni 2008): Ein (englischsprachiges) Video mit einem kritischen RĂŒckblick von Prof. Spitzer selbst ist archiviert in Truth wins out (LĂ€nge: 3 Min. 51 Sek.).

Quellen:

  1. Dean Byrd (NARTH) On Track for the Future
  2. Valeria Hinck Spitzerstudie, Amsterdam-Studie, etc. – was steht dort wirklich (nicht)?
  3. Dieselbe Wie allwissend ist Wissenschaft im namen des AllmÀchtigen? Kritische Fragen an die Advokaten der Heilungspsychologie
  4. Robert L. Spitzer Neue Studie zur Frage der VerÀnderbarkeit einer homosexuellen Orientierung aus dem Bulletin-Sonderheft 2005 des DIJG
  5. Christl R. Vonholdt HomosexualitÀt verstehen Bulletin-Sonderdruck 2006 des DIJG
  6. B. A. Robinson Analysis of Dr. Spitzers Study of Reparative Therapy